Die Entwicklung Künstlicher Allgemeiner Intelligenz (AGI) markiert nicht nur einen technologischen Meilenstein, sondern auch den Beginn einer neuen Ära menschlicher Existenz. Szenarien, in denen automatische Systeme für Energie, Nahrung, Sicherheit und Logistik sorgen, visualisieren eine Zukunft, in der grundlegende Bedürfnisse erfüllt und Überlebensängste weitestgehend eliminiert sind. Was bleibt dann für uns? Welche Lebensspiele definieren uns, wenn die Dringlichkeit von Status, Reichtum oder schlichtem Überleben nicht mehr als Antrieb wirkt? Die Reflexion über diese Fragen führt uns zum Kern dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein in einer post-AGI-Welt. Im Zentrum dieser Überlegungen steht die Analogie zu „Spielen“ als Metapher für grundlegende Motivationen und Wertvorstellungen. Philipp Cannons entwickelt in seinen Gedankenexperimenten die Idee, dass wir verschiedene, archetypische Spiele spielen, welche unser Handeln und unsere Identität formen.
Diese Spiele sind keine oberflächlichen Beschäftigungen, sondern tiefliegende Antriebskräfte, die unsere Entscheidungen steuern und unser Leben mit Sinn und Erfüllung füllen oder eben auch Frustration bringen können. Das erste Spiel ist das „Weisheitsspiel“. Hier geht es um die Suche nach Wahrheit und tiefem Verständnis der Realität. Ob es nun die Erforschung von Quantenphänomenen ist, das Nachdenken über Bewusstsein oder das simple kindliche Staunen über die Welt – dieses Spiel bleibt auch dann bestehen, wenn kein anderer Mensch mehr da ist, der als Publikum dienen könnte. Es ist ein unendliches Spiel, dessen Zweck allein in der fortdauernden Entdeckung und Erkenntnis liegt.
Nach dem Aufkommen der AGI verschiebt sich die Herausforderung vom simplen Sammeln von Fakten hin zur Synthese von Wissen und zum Finden von Bedeutung im Meer der verfügbaren Informationen. Die einmalige menschliche Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge intuitiv zu begreifen und subjektive Erfahrungen einzubeziehen, bleibt hierbei das Differenzierungsmerkmal. Das „Statusspiel“ ist ein evolutionär tief verankerter Instinkt, der uns auf jahrtausendealte soziale Hierarchien zurückführt. Ursprünglich essenziell für unser Überleben in der Gruppe, manifestiert sich Status heute in Arbeitswelten, sozialen Medien und kulturellen Machtstrukturen. Dieses Spiel ist naturgemäß nullsummig – für den einen Aufstieg muss ein anderer zurückfallen.
Auch wenn das Streben danach oft zu Ängsten, Neid und einem nie endenden Wettkampf führt, bleibt es ein Spiel, das tief in unserem Gehirn verwurzelt ist. Post AGI jedoch verändert sich die Währung des Status. Materielle Beschränkungen lösen sich auf, und neue Hierarchien bilden sich rund um kreative Autorität, emotionale Intelligenz und philosophische Tiefe. Das Ansehen bemisst sich zunehmend daran, wer echte menschliche Erlebnisse schafft und teilt, die Maschinen nicht reproduzieren können. Das „Hedonismus-Spiel“ dreht sich um die Maximierung von Erlebnissen und Empfindungen.
Während klassische Ansätze Hedonismus oft auf körperliche Lust oder kurzfristige Befriedigung reduzieren, umfasst es hier auch das Streben nach Flow-Zuständen, ästhetischer Tiefe und intensiven Sinneseindrücken. David Pearce’s Vision von der Beseitigung jeglichen Leids durch Biotechnologie stellt eine gewagte Utopie dar, während Eliezer Yudkowskys „Orgasmium“ Gedankenexperiment hinterfragt, ob reine Lust ohne Kontext wirklich erfüllend wäre. In einer Welt mit AGI, die perfekte Vergnügen auf Knopfdruck verfügbar macht, verlagert sich das Spiel zum bewussten Gestalten von sinnhaften Erfahrungen. Herausforderung wird es sein, sinnstiftende Reibungen und narrative Komplexität in diese Empfindungen einzubauen, um Tiefgang und echtes Gefühl von Leistung zu schaffen. Ein weiterer zentraler Lebensspielcharakter ist das „Reichtumsspiel“.
Wealth, so wie Naval Ravikant es beschreibt, bedeutet nicht allein Anhäufung von Geld, sondern die Schaffung von Freiheit – vor allem zeitlicher und kognitiver Natur. Das Spiel besteht darin, Systeme zu bauen, die Ressourcen zum Fließen bringen, sodass Menschen nicht länger in einem Überlebenskampf gefangen sind, sondern die Freiheit gewinnen, anderen Lebensspielen nachzugehen. In der post-AGI-Welt wandelt sich Reichtum dabei in die Kontrolle über besondere menschliche und kreative Erfahrungen, die nicht automatisierbar sind. Wertvoll werden diejenigen, die authentische menschliche Momente kultivieren und Räume schaffen, in denen echte Verbindung entsteht. Das „Tugendspiel“ beschäftigt sich mit der inneren Charakterbildung.
Wer bin ich, wenn niemand zusieht? Dieses Spiel fordert Selbstdisziplin, Integrität, Mut und Mitgefühl – Qualitäten, die nicht von außen belohnt, sondern aus dem Inneren heraus kultiviert werden. In einer Zukunft mit AGI könnten intelligente Systeme als moralische Begleiter fungieren, die uns konsistent ethische Reflexionen anbieten, jedoch ohne die Komplexität menschlicher Gefühle. Das größere Problem liegt darin, authentisch zu bleiben und Entscheidungen zu treffen, die nicht allein von Algorithmen optimiert werden können. Das Tugendspiel ist ein tief menschlicher Prozess der Selbstwerdung und existenziellen Ausrichtung. Das letzte der fundamentalen Spiele ist das „Vermächtnisspiel“.
Hier geht es um die Spuren, die wir über unser Leben hinaus hinterlassen. Der Wunsch, Einfluss zu haben – auf Kinder, Gemeinschaften, Kulturen oder gar die Zukunft der Menschheit – liegt tief in uns. Legacy fragt, was von uns bleibt, wenn wir nicht mehr da sind. Post AGI wird das Vermächtnisverständnis potenziert: eine einzelne kluge Handlung kann die Entwicklung von intelligenter Technologie oder die Erforschung des Universums über Jahrtausende prägen. Dennoch ist das persönlichste Vermächtnis oftmals das, was in engen Beziehungen und Gemeinschaften weiterlebt.
Diese sechs Lebensspiele – Weisheit, Status, Hedonismus, Reichtum, Tugend und Vermächtnis – sind Grundmuster, die sich in einer Welt ohne existentielle Not neu ordnen, verschmelzen und transformieren. Die Simulation eines „Taschenuniversums“ oder „Pocket Dimension“ verdeutlicht diese Dynamik: Ein künstlicher Raum, der ein exaktes Abbild unserer Welt ist, aber mit vollständiger Automatisierung und Fülle. Hier entfallen Konkurrenz um Ressourcen und Überlebenskampf vollständig. Wie würde sich unser Spielverhalten verändern, wenn wir dort allein wären oder in Gesellschaft unserer vertrauten Menschen? Welche Spiele würden wir spielen, wenn Statuskämpfe bedeutungslos wären und die Freiheit zur Auswahl unser einziger Zwang blieb? Die Antwort liegt darin, dass Menschen, wenn äußere Zwänge wegfallen, zu ihren authentischsten Motivationen zurückkehren. Diese Spiele sind tief in unserer Evolution und Psychologie verankert und formen unsere Identität.
Post AGI wird der wahre Wettkampf nicht der zwischen Mensch und Maschine sein, sondern die Wahl jener Lebensspiele, die wir annehmen und mit welchen Werten wir uns identifizieren. Freiheit von Notwendigkeiten bedeutet nicht Freiheit von Entscheidungen. Im Gegenteil: Die Auswahl wird zur größten Herausforderung und Chance zugleich. Das Spiel des Lebens selbst wird zum bewussten Akt der Identitätsfindung und Sinnstiftung. AGI ist der Katalysator, der die äußeren Zwänge wegwischt und die innere Landschaft in den Fokus rückt.