Die Nutzung sozialer Medien ist aus dem Alltag vieler Jugendlicher nicht mehr wegzudenken. Fast 93 Prozent der 12- bis 17-Jährigen in Großbritannien besitzen einen Social-Media-Account, was die enorme Bedeutung dieser Plattformen in der sozialen, emotionalen und kognitiven Entwicklung Jugendlicher unterstreicht. Gleichzeitig wächst die Sorge, dass die intensive Nutzung sozialer Medien negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit junger Menschen haben könnte. Dennoch gibt es bislang nur wenig differenzierte Forschung, die den Gebrauch sozialer Medien von Jugendlichen mit diagnostizierten psychischen Erkrankungen mit denen ohne solche Diagnosen vergleicht. Ein aktueller, umfassender Bericht zur sozialen Mediennutzung bei Jugendlichen mit und ohne psychische Erkrankungen in Großbritannien schließt nun genau diese Forschungslücke und liefert dabei spannende und differenzierte Erkenntnisse, die für Eltern, Pädagog*innen, Fachkräfte und politische Entscheidungsträger relevant sind.
Die Studie basiert auf der Analyse von Daten der Mental Health of Children and Young People (MHCYP) Studie von 2017, einer repräsentativen Stichprobe von 3.340 Jugendlichen im Alter von 11 bis 19 Jahren. Anders als viele frühere Untersuchungen verwendet diese Studie keine rein symptomatischen Fragebögen, sondern arbeitet mit klinisch qualifizierten Rater-Bewertungen, die standardisierte Diagnosen bei den Teilnehmenden stellen. Dadurch werden Unterschiede zwischen Jugendlichen, die lediglich Symptome aufweisen, und solchen mit diagnostizierten psychischen Erkrankungen nachvollziehbar gemacht. Die Untersuchungen betrachten dabei nicht nur die Dauer der Social-Media-Nutzung, sondern auch qualitative Aspekte wie Online-Sozialvergleiche, die Kontrolle über die Nutzungszeit, die Wirkung von Online-Feedback sowie Aspekte von Freundschaften und Selbstdarstellung im digitalen Raum.
Insgesamt zeigt sich ein klares Bild: Jugendliche mit einer psychischen Erkrankung verbringen signifikant mehr Zeit auf sozialen Medien als solche ohne Diagnose. Die festgestellte mittlere Differenz ist nicht nur statistisch bedeutsam, sondern auch in der Praxis relevant. Interessanterweise sind diejenigen mit einer sogenannten „internalisierenden“ Erkrankung – also Zuständen wie Depressionen und Angststörungen –, im Durchschnitt noch intensiver in der Nutzung, machen zudem vermehrt soziale Vergleiche und berichten, dass Online-Feedback stärker ihre Stimmung beeinflusst. Ebenso fühlt sich diese Gruppe weniger zufrieden mit der Anzahl ihrer Online-Freunde und zeigt eine reduzierte Tendenz zur ehrlichen und authentischen Selbstoffenbarung. Im Gegensatz dazu zeichnen sich Jugendliche mit „externalisierenden“ Erkrankungen, etwa Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder Störungen im sozial-aggressiven Verhalten, zwar ebenfalls durch einen höheren Medienkonsum aus, doch hinsichtlich der emotionalen Verarbeitung sozialer Medieninhalte und sozialer Vergleiche unterscheiden sie sich weniger von Jugendlichen ohne Diagnose.
Diese Befunde deuten darauf hin, dass psychische Erkrankungen unterschiedlich in das Erleben und Verhalten auf sozialen Medien eingebettet sind, abhängig von der Art der Erkrankung und ihren typischen Symptomen. Die Dimensionen des Risikos und des Schutzes spielen dabei eine wichtige Rolle. Während intensiver Medienkonsum und exzessive soziale Vergleiche das Risiko für Verschlechterungen der psychischen Gesundheit steigern können, bietet soziale Vernetzung im Online-Raum auch Chancen für soziale Unterstützung und die Förderung eines Zugehörigkeitsgefühls. Auffällig ist jedoch, dass die Gruppe der Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen vor allem im Hinblick auf die Zufriedenheit mit ihren Online-Freundschaften und auf authentische Selbstdarstellung Online eingeschränkter ist. Das könnte das Gefühl sozialer Isolation oder negativer Selbstbewertung widerspiegeln, das auch aus dem Offlineleben bekannt ist.
Der Befund, dass Jugendliche mit internalisierenden Störungen sich zwar intensiver mit sozialen Medien auseinandersetzen, aber weniger kontrolliert und weniger zufrieden in diesen Interaktionen sind, eröffnet wichtige Perspektiven für Interventionen. Aufklärung über den Umgang mit sozialen Medien, die Förderung einer kritischen Medienkompetenz und die gezielte Unterstützung, um Online-Sozialvergleiche abzubauen, könnten wirksame Bausteine für Präventionsmaßnahmen sein. Insbesondere psychoedukative Maßnahmen zur kognitiven Umstrukturierung von negativen Bewertungen durch Online-Feedback (Likes, Kommentare) dürften sich als sinnvoll erweisen. Der Befund der Studie basiert allerdings auf Querschnittsdaten, so dass keine kausalen Aussagen möglich sind. Ob die verstärkte Nutzung sozialer Medien eine Folge oder Ursache der psychischen Erkrankungen ist, bleibt unklar.
Ebenso könnten Drittvariablen wie familiäre Umstände, soziale Unterstützung außerhalb des Internets oder Persönlichkeitsmerkmale Einfluss auf die Zusammenhänge haben. Längsschnittstudien mit objektiven Daten zur Mediennutzung und psychologischen Diagnosen sind hier wichtige nächste Schritte. Neben den genannten Stärken – repräsentative Stichprobe, klinisch gestützte Diagnosen und differenzierte Erhebung sozialer Mediennutzung – ist auch die Berücksichtigung von Qualität und Kontext der digitalen Erfahrungen hervorzuheben. Nicht alle Mediennutzungen sind nierderwertig; manche können Schutzfaktoren darstellen. Deshalb ist die pauschale Diskussion über die „Gefährlichkeit“ oder „Betäubungskraft“ sozialer Medien für Jugendliche zu kurz gegriffen.
Vielmehr muss differenziert und die jeweilige psychische Verfassung berücksichtigt werden. Die Implikationen für Politik und Praxis sind vielfältig. Angesichts der zunehmenden Prävalenz psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen – zum Beispiel einer Verdoppelung der diagnostizierten Fälle von 2017 bis 2022 – ist es entscheidend, soziale Medien nicht pauschal als Sündenbock zu verteufeln, sondern genau zu verstehen, wie eine angemessene Nutzung für Vulnerable gestaltet werden kann. Klinische Fachkräfte können dazu beitragen, indem sie mit Jugendlichen die Qualität ihrer digitalen Erfahrungen reflektieren und gegebenenfalls medienbezogene Bewältigungsstrategien vermitteln. Zudem sollten pädagogische Einrichtungen und Familien Einblicke darin gewinnen, wie unterschiedliche Erkrankungsprofile zu verschiedenartigen Nutzungsmustern im Netz führen können.
Während bei Jugendlichen mit internalisierenden Störungen etwa die emotionale Reaktivität auf Online-Feedback im Fokus stehen könnte, sind bei externalisierenden Erkrankungen eher Impulskontrolle und Medienzeit eine Herausforderung. Zukünftige Forschung sollte sich nicht nur auf neue Plattformen und Trends einstellen, sondern auch auf spezifische Gruppen, etwa Jugendliche mit Lernschwierigkeiten oder intellektuellen Beeinträchtigungen, die in aktuellen Studien noch wenig Beachtung finden. Eine Erweiterung der Messinstrumente um objektive Nutzungsdaten, multisensorische Erhebungen und interaktive Versuche ermöglichen ein umfassenderes Verständnis der komplexen Wechselwirkungen. Zusammenfassend zeigt die Analyse, dass die digitale Welt für Jugendliche mit psychischen Erkrankungen ein ambivalenter Raum ist. Sie bietet Chancen der sozialen Teilhabe, aber auch Herausforderungen, die sich je nach Erkrankungstyp und individueller Lage unterscheiden.
Um den digitalen Raum für alle Jugendlichen sicherer und unterstützender zu machen, sind differenzierte Erkenntnisse, gezielte Interventionen und gesellschaftliche Verantwortung gefragt – gut informierte Ansätze, die den realen Nutzungsprozessen gerecht werden und die Vielfalt der psychischen Zustände nicht übersehen.