4Chan gilt seit fast zwei Jahrzehnten als einer der einflussreichsten und zugleich umstrittensten Treffpunkte im Internet. Als Geburtsstätte zahlreicher Internetphänomene, Meme und Subkulturen verbindet die Plattform Anonymität und freie Meinungsäußerung – was ihr zugleich eine Atmosphäre des Chaos und der Unsicherheit verleiht. Doch trotz aller Turbulenzen blieb die Identität derjenigen, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen, lange verborgen. Im Frühjahr 2025 wurde diese Anonymität jedoch überraschend gebrochen: Im Zuge eines umfassenden Hacks wurden interne Daten veröffentlicht, die die Existenz eines scheinbar unscheinbaren, aber äußerst versierten Administrators offenlegten – Alex Strange, ein Entwickler bei Apple. Diese Enthüllung hat weitreichende Folgen für das Verständnis sowohl von 4Chan als auch für die digitale Welt insgesamt.
Die Hackerattacke, die am 14. April 2025 bekannt wurde, stellte einen Wendepunkt in der Geschichte von 4Chan dar. Über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr hatte ein unbekannter Angreifer Zugang zum Backend der Plattform, von dem aus sensible Informationen wie Quellcodes, Zugangsdaten von Moderatoren und Administratoren sowie Nutzerinformationen entwendet und veröffentlicht wurden. Besonders ins Auge stach dabei ein Admin-Account mit dem Alias „Mr VacBob“ – eine Bezeichnung, die jahrelang im Internet immer wieder auftauchte und über OSINT-Ermittlungen auf die reale Person Alex Strange zurückgeführt werden konnte. Die Spur zu Alex Strange begann mit der Analyse von Pseudonymen und ihren wiederkehrenden Verwendungsmustern auf verschiedenen Online-Plattformen.
Der Nickname „Mr VacBob“ wurde konsistent als Abkürzung „MVB“ verwendet und fand sich in Foren, sozialen Medien, Entwicklerprofilen sowie IRC-Kanälen. Ein früher Beleg war ein Screenshot aus dem Jahr 2011 in einem irc-Client, der die Präsenz von MVB in einem Chatkanal namens #raspberryheaven dokumentierte. Dieser Kanal verband Anime-Enthusiasten und Nutzer von Textboards – ein klarer Bezugspunkt zu 4Chans Ursprüngen. Die Verknüpfung zahlreicher Accounts mit ähnlichen Pseudonymen und Metadaten wie Avataren sowie E-Mail-Hinweisen ermöglichte den Forscherteams eine immer präzisere Zuordnung. Die Relevanz dieses Kanals und die damit verbundene Community sind nicht zu unterschätzen.
Raspberry Heaven diente in den frühen 2000er Jahren als wichtiger Treffpunkt für westliche Anime-Fans und textbasierte Diskussionsplattformen und war eng mit der Entwicklung von 4Chan verbunden. Die Tatsache, dass Alex Strange als „MVB“ in diesem Kreis frühzeitig aktiv war, lässt darauf schließen, dass er nicht nur Nutzer, sondern möglicherweise maßgeblich an der Entwicklung und Administration beteiligt war. Eine weitere wichtige Quelle war die Untersuchung eines Domain-WHOIS-Eintrags, der zu einem Twitter-Account mit dem Handle @astrange_e führte, der wiederum auf Alex Strange zurückgeführt werden konnte. Die gleiche Namensgebung tauchte zudem in öffentlichen Code-Commits und E-Mail-Adressen auf. Weitere Bestätigungen kamen von einem LinkedIn-Profil, das detaillierte Informationen über Strange zeigte: Ein Computerwissenschaftler mit Abschluss vom Georgia Institute of Technology, der seit 2010 bei Apple tätig ist.
Alex Strange arbeitet seit über einem Jahrzehnt im Technologieunternehmen Apple mit Schwerpunkt auf dem macOS-Ökosystem. Seine verschiedenen Stationen innerhalb des Unternehmens, angefangen als Software Engineering Intern bis hin zu spezialisierten Rollen im Bereich Device Management und CoreOS Performance Engineering, spiegeln ein technisches Fachwissen wider, das für den Betrieb komplexer Serverinfrastrukturen und Backend-Systeme unerlässlich ist. Die Fähigkeiten, die Strange bei Apple entwickelte, passen erstaunlich gut zu den Anforderungen an die Wartung und Verbesserung von 4Chans Backend. Neben der professionellen Karriere fand Strange auch seine Freizeit in der Welt der japanischen Popkultur, Anime und Cosplay. Dies unterstreicht die Verbindung zwischen seiner digitalen Identität und den kulturellen Ursprüngen von 4Chan, das längst als westliches Pendant zu japanischen Imageboards wie 2chan gilt.
Zahlreiche Fotos, die online kursieren und über die gleiche Nutzeridentität verknüpft sind, zeigen Strange in typischen Cosplay-Outfits und spiegeln seine leidenschaftliche Hingabe zu dieser Subkultur wider. Die Verknüpfung von Alex Strange mit 4Chans Administration wirft wichtige Fragen auf. Einerseits bietet es ein faszinierendes Beispiel dafür, wie professionelle Entwickler in anonymen oder semi-anonymen Online-Communities agieren. Andererseits öffnet es eine Diskussion über Verantwortung und Kontrolle in digitalen Räumen, die oft als vollkommen unreguliert oder bewusst anarchistisch wahrgenommen werden. 4Chan hat seit jeher eine Rolle als Ort für freie Meinungsäußerung beansprucht, aber diese Freiheit wurde nicht immer zum Wohle aller genutzt.
Die Plattform ist bekannt für wiederkehrende Kontroversen rund um Hasskampagnen, das Teilen von nicht einvernehmlichen Bildern, extremistisches Gedankengut und Desinformationsoperationen. Die Enthüllung der Identität eines Admins könnte weitreichende rechtliche und ethische Folgen haben – sowohl für den Einzelnen als auch für die Plattform als Ganzes. Der Vorfall zeigt zudem, wie gefährdet Netzwerke sind, die ihre Stärke auf Anonymität gründen. Längst gilt als widerlegt, dass man durch lange Nutzung oder Verwendung verschiedener Pseudonyme eine absolute Unsichtbarkeit erreichen kann. OSINT-Technologien und die Analyse von Metadaten haben sich zu mächtigen Werkzeugen entwickelt, die digitale Fingerabdrücke über viele Jahre und Plattformen hinweg sichtbar machen.
Die Geschichte von Alex Strange steht exemplarisch für diese Entwicklung. Durch den Hack und die Veröffentlichung der geheimen Daten ist ein Mythos gefallen: Die vermeintlich anonymen Betreiber von 4Chan sind keine Schattenwesen, sondern reale Personen mit komplexen Lebensgeschichten, technischen Fähigkeiten und Eigenheiten. Dies verändert die Perspektive auf die Machtstrukturen hinter der Plattform radikal und fordert neue Überlegungen zur Transparenz, Verantwortlichkeit und Sicherheit im Netz. Für die Community und die breite Öffentlichkeit liefert der Fall Alex Strange eine Mahnung. Digitale Identitäten sind kein undurchdringliches Schutzschild, und selbst erfahrene Nutzer mit hoher technischer Kompetenz sind angreifbar.