Richard L. Garwin, geboren 1928 in Cleveland, Ohio, war einer der bedeutendsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, dessen Arbeit tiefgreifende Auswirkungen auf Wissenschaft, Technologie und internationale Sicherheit hatte. Er wird vor allem als ein wesentlicher Schöpfer der ersten Wasserstoffbombe anerkannt und war ein profunder Berater zahlreicher US-Präsidenten. Garwins Lebenswerk reicht weit über seine Nuklearerfindungen hinaus und hinterlässt eine bleibende Spur in verschiedenen technologischen und wissenschaftlichen Bereichen.
Garwins herausragende intellektuelle Fähigkeiten zeigten sich bereits in jungen Jahren. Schon im Alter von fünf Jahren reparierte er technische Geräte. Nach einem schnellen schulischen Aufstieg absolvierte er früh ein Physikstudium am Case Western Reserve University. Sein akademisches Talent setzte sich fort, als er unter dem Nobelpreisträger Enrico Fermi an der University of Chicago studierte und dort einen Rekord bei den Doktorprüfungen aufstellte. Sein Studium legte den Grundstein für eine brillante Karriere in Forschung und Entwicklung im Dienste der nationalen Sicherheit.
Im frühen 20. Jahrhundert war die Entwicklung von Kernwaffen eine der technisch komplexesten und geopolitisch bedeutendsten Herausforderungen. Auch wenn Edward Teller und Stanislaw Ulam die theoretischen Grundlagen der Wasserstoffbombe legten, war es Richard Garwin, der als junger Physiker die erste praktikable Wasserstoffbombe entwarf. 1951/52 arbeitete er als Sommerberater im Los Alamos National Laboratory und setzte die Teller-Ulam-Konzeption in ein konkretes Bombendesign um. Dieses Experiment erhielt den Codenamen Ivy Mike und wurde 1952 auf der Enewetak-Atoll getestet.
Die Explosion hatte eine Kraft, die 700-fach über der Atombombe von Hiroshima lag und markierte einen technologischen Wendepunkt im Kalten Krieg. Garwin war jedoch nie der Vater der Wasserstoffbombe im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr der Ingenieur, der die theoretischen Erkenntnisse in eine funktionsfähige Waffe umsetzte. Die Entwicklung der Bombe stand unter größter Geheimhaltung, weshalb seine Rolle erst Jahrzehnte später öffentlich anerkannt wurde. Die Anerkennung kam teilweise durch Edward Teller, der Garwins entscheidenden Beitrag im Nachhinein hervorhob. Trotz der monströsen Zerstörungskraft, die Garwins Entwurf ermöglichte, empfand er persönlich die Arbeit an der Wasserstoffbombe nicht als den bedeutendsten Teil seines Lebens.
Für ihn war die nukleare Abschreckung zwar ein tragisches, aber notwendiges Übel des Kalten Krieges. Es war diese doppelte Rolle als Wissenschaftler und Mahner, die seine Karriere über Jahrzehnte prägte. Nach dem Erfolg im Nuklearbereich entschied sich Garwin 1952 für eine ungewöhnliche Laufbahn. Er hätte eine sichere akademische Position an der Universität Chicago bekommen können, wählte jedoch ein innovatives Forschungsumfeld bei International Business Machines (IBM). Dort hatte er die Freiheit, vielfältige Projekte mit tiefem wissenschaftlichen und technischen Anspruch zu verfolgen, während er weiterhin in Regierungsberatungen tätig war.
Seine Forschungsarbeiten bei IBM führten zu zahlreichen Patenten und wissenschaftlichen Durchbrüchen, insbesondere in den Bereichen Computermedizin und Kommunikationstechnologie. Ein besonderes Beispiel seiner umfangreichen Arbeit war seine Beteiligung an der Entwicklung der Magnetresonanztomographie (MRI), einer medizinischen Technologie, die heute Millionen von Patienten weltweit hilft. Ebenso trugen seine Erkenntnisse zur Entwicklung schneller Laserdrucker und später der Touchscreen-Technologie bei, die heute in Smartphones und Tablets unverzichtbar ist. Somit steht Garwin für eine seltene Symbiose aus Hochtechnologie und angewandter Medizin. Neben seinen technologischen Innovationen engagierte sich Garwin intensiv in Fragen der nationalen Sicherheit und Rüstungskontrolle.
Seine Expertise in Nuklearwaffen und Verteidigungssystemen machte ihn zu einem gefragten Berater für mehrere US-Präsidenten – von Dwight D. Eisenhower bis Bill Clinton. In dieser Rolle war er oft ein kritischer Geist gegenüber militärischer Überrüstung und falschen Prioritäten im Pentagon. Er kämpfte für ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen den USA und der Sowjetunion, um den Frieden durch Abschreckung zu sichern. Garwin war ein entschiedener Gegner von Rüstungsvorhaben, die seiner Ansicht nach die strategische Stabilität gefährdeten oder ineffizient waren.
So war er gegen Ronald Reagans geplantes Weltraumraketenschild „Star Wars“ und warnte vor den Gefahren des MX-Raketensystems und dem B-1-Bomberprogramm. Sein Einfluss war auch auf dem Gebiet der Abrüstung spürbar, insbesondere durch seine Befürwortung von Abkommen wie SALT II, was die Kontrolle und Reduzierung strategischer Nuklearwaffen zum Ziel hatte. Richard Garwins Haltung zum Thema Nuklearwaffen war nüchtern und pragmatisch zugleich. Er erkannte die moralische Problematik solcher Massenvernichtungswaffen, sah aber auch, dass Abschreckung der einzige Weg war, um einen nuklearen Krieg im Kalten Krieg zu verhindern. Gegen Ende seines Lebens forderte Garwin engagiert eine Begrenzung der Entscheidungsgewalt über den Ersteinsatz von Atomwaffen – ein Schritt, der das Risiko eines unbedachten nuklearen Konflikts verringern sollte.
Sein Leben war geprägt von einem Streben nach verantwortungsbewusster Wissenschaft und dem Willen, praktische Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Zahlreiche Ehren und Auszeichnungen würdigten sein Werk, darunter die National Medal of Science und die Presidential Medal of Freedom, die höchste zivile Auszeichnung der USA. Garwins publizistisches Werk umfasst hunderte wissenschaftliche Arbeiten und mehrere Bücher zu Nuklearwaffen, Politik und Sicherheit. Seine Biografie „True Genius: The Life and Work of Richard Garwin, the Most Influential Scientist You’ve Never Heard Of“ zeichnet ein umfassendes Bild eines Mannes, der hinter den Kulissen eine entscheidende Rolle in der Wissenschaft und Politik des 20. Jahrhunderts spielte.