Die emotionale Verarbeitung ist ein komplexer und zugleich fundamentaler Bestandteil unseres menschlichen Erlebens. Sie ist essenziell für unser Selbstverständnis, soziale Interaktionen und unsere psychische Gesundheit. Die Art und Weise, wie wir sowohl eigene Gefühle erkennen und verstehen (Intrapersonale Emotionswahrnehmung) als auch die Emotionen anderer wahrnehmen und interpretieren (Interpersonale Emotionswahrnehmung), wird maßgeblich durch frühe Bindungserfahrungen geprägt. Bindungstheorien, die insbesondere auf John Bowlby zurückgehen, liefern hierfür seit langem einen theoretischen Rahmen und wurden inzwischen auch durch empirische Forschung bestätigt. Dabei zeigt sich, dass die individuelle Bindungsrepräsentation nicht nur unsere Beziehungsqualität beeinflusst, sondern auch als wichtiger Modulator für unsere emotionale Wahrnehmung fungiert.
Ein bedeutendes Konzept zur Beschreibung der intrapersonalen Emotionswahrnehmung ist das der sogenannten Impathie. Anders als Empathie, die traditionell als die Fähigkeit verstanden wird, die Emotionen anderer nachzuempfinden, bezeichnet Impathie die Fähigkeit, sich selbst zu verstehen, sich mit den eigenen inneren Gefühlen auseinanderzusetzen und diese ohne Überidentifikation wahrzunehmen. Vier Dimensionen kennzeichnen dieses Konzept: Das bewusste Wahrnehmen der eigenen inneren Vorgänge, das Einnehmen einer Meta-Position, also das Reflektieren ohne in den Gefühlen aufzugehen, eine akzeptierende Haltung gegenüber den eigenen Emotionen und das tiefe Verstehen der eigenen psychischen Phänomene. Diese Fähigkeiten bilden eine Grundlage für emotionale Selbstregulation und sind eng mit psychischer Gesundheit verknüpft. Neben der intrapersonalen Emotionswahrnehmung ist die interpersonale Fähigkeit, also das Erkennen von Emotionen bei anderen, für gelingende Beziehungen von hoher Bedeutung.
Hier sind verschiedene Facetten von Empathie relevant, insbesondere kognitive Empathie, die das Verstehen der Gefühle anderer umfasst, und affektive Empathie, bei der man die Gefühle anderer tatsächlich miterlebt. Studien zeigen, dass kognitive Empathie und ihre Basis – die Fähigkeit zur Emotionserkennung – unterschiedliche neuronale und psychologische Prozesse bedienen und unterschiedliche Konsequenzen für die Regulation der eigenen Emotionen besitzen. Während kognitive Empathie tendenziell mit einer besseren emotionalen Regulation einhergeht, kann eine verstärkte affektive Empathie Überforderungen hervorrufen. Bindungsmuster, die aus frühen Beziehungserfahrungen resultieren, scheinen einen entscheidenden Einfluss darauf zu haben, wie gut Menschen ihre eigenen Emotionen wahrnehmen und fremde Gefühle erkennen können. Besonders bei Personen mit sogenannten organisierten Bindungsrepräsentationen – also solchen, die eine meist sichere, verlässliche Bindungserfahrung haben – ist die Fähigkeit zur interpersonellen Emotionswahrnehmung häufig gut ausgeprägt, selbst wenn psychische Störungen vorliegen.
Im Gegensatz dazu leiden Personen mit einer unaufgelösten oder desorganisierten Bindungsrepräsentation oft unter signifikanten Einschränkungen sowohl in der Impathie als auch in der Emotionserkennung anderer. Diese Einschränkungen treten besonders in Bezug auf Angst- und Ärgerausdrücke auf, zwei Emotionen, die evolutionär als Warnsignale dienen und für soziale Interaktionen wichtig sind. Der Mechanismus hinter diesen Defiziten lässt sich durch den Begriff der defensiven Exklusion erklären. Gemäß Bindungstheorie erleben Menschen mit desorganisierter Bindung ihre primäre Bezugsperson sowohl als Schutzquelle als auch als Bedrohung. Um den inneren Konflikt „Furcht ohne Lösung“ zu bewältigen, werden bestimmte Emotionen, die die Bedrohung signalisieren – insbesondere Angst und Ärger – unbewusst ausgeblendet oder dissoziiert.
Dies verhindert nicht nur die volle Wahrnehmung dieser Emotionen bei sich selbst, sondern auch das angemessene Erkennen bei anderen. Die narratives Assessment-Instrument Adult Attachment Projective Picture System (AAP) zeigt diese inneren Konflikte und die damit einhergehende defensive Exklusion in den Erzählungen Betroffener. Neuere Studien, die sowohl klinische Populationen mit Persönlichkeitsstörungen als auch gesunde Kontrollgruppen untersuchen, verdeutlichen den Wirkungsgrad der Bindungsrepräsentation auf die emotionale Verarbeitung. Während Patienten mit organisierten Bindungen zwar Probleme beim selbstbezogenen emotionalen Verstehen zeigen, ist ihre Fähigkeit, Emotionen bei anderen zu erkennen, weitgehend intakt. Bei Angehörigen der Gruppe mit unaufgelöster Bindung hingegen sind Defizite in beiden Bereichen signifikant.
Zusätzlich korreliert die Schwere der unaufgelösten Bindung mit der Intensität der Beeinträchtigung, speziell im Erkennen von Angst- und Ärgerausdrücken. Diese Erkenntnisse erweisen sich als relevant für differenzierte therapeutische Ansätze, die an die individuelle Bindungsrepräsentation anknüpfen. Die Relevanz dieser Erkenntnisse für die Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen und anderen psychischen Erkrankungen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Eine gezielte Diagnostik der Bindungsrepräsentation mittels objektiver Instrumente wie dem AAP kann dazu beitragen, die emotionale Verarbeitung des Patienten besser zu verstehen und die Therapie darauf anzupassen. Für Patienten mit organisierten Bindungen liegt der Schwerpunkt in der Förderung der Impathie, etwa durch Techniken der mentalisierenden Reflexion, Akzeptanz und Selbstmitgefühl.
Bei Personen mit unaufgelöster Bindung gilt es hingegen zusätzlich, die Defizite in der interpersonalen Emotionserkennung anzugehen, idealerweise flankiert durch traumaorientierte Verfahren, die die Integration bislang abgespaltener Emotionen – insbesondere Angst und Ärger – erleichtern. Diese individualisierte Herangehensweise verspricht nicht nur eine Verbesserung der emotionalen Kompetenzen der Betroffenen, sondern auch positive Wirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen und den Verlauf der Persönlichkeitsstörung. Denn emotionale Dysregulation und Unsicherheiten im Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen sind zentrale Faktoren, die die Lebensqualität beeinträchtigen und soziale Isolation fördern. Ein weiterer spannender Ansatz für zukünftige Forschung und Behandlung liegt in der Verbindung von narratives verbalen und nonverbalen Emotionserleben zu analysieren. So könnten mikroexpressionale Gesichtsausdrücke, die unbewusste emotionale Reaktionen widerspiegeln, genutzt werden, um verborgene emotionale Prozesse aufzuzeigen und therapeutisch zu nutzen.
Moderne Technologien und Künstliche Intelligenz bieten heute Möglichkeiten, solche subtilen nonverbalen Signale objektiv zu messen und in diagnostische und therapeutische Prozesse einzubeziehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bindungsrepräsentation einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Emotionen hat, sowohl intrapersonal als auch interpersonal. Organisierte Bindungen schützen vor schweren Defiziten in der Emotionserkennung anderer, auch wenn psychopathologische Belastungen bestehen. Unaufgelöste Bindungen hingegen gehen mit umfassenden Störungen emotionaler Verarbeitung einher, welche sich insbesondere in der eingeschränkten Wahrnehmung von Angst und Ärger manifestieren. Diese Erkenntnisse bieten wertvolle Impulse für Theorie, Diagnostik und Therapie und unterstreichen die Bedeutung eines bindungstheoretisch fundierten Verständnisses von Emotionen in der psychologischen Praxis.
Die Förderung von Impathie und der gezielte Umgang mit defensiver Exklusion könnten künftig entscheidend dazu beitragen, emotionale Fähigkeiten zu verbessern und psychische Gesundheit nachhaltig zu stärken.