In den letzten Jahrzehnten hat die Physik immense Fortschritte gemacht, doch paradoxerweise scheint es, als stecke die Disziplin gleichzeitig in einem gewissen Stillstand fest. Eine wachsende Zahl von Stimmen aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft weist darauf hin, dass nicht allein empirische oder technologische Schwierigkeiten den Fortschritt behindern, sondern vor allem die Art und Weise, wie viele Physiker philosophische Prinzipien und Herangehensweisen interpretieren und anwenden. Diese „schlechte Philosophie“ wirkt sich negativ auf die Weiterentwicklung fundamentaler physikalischer Theorien aus und verzögert so entscheidende Durchbrüche. Die moderne Physik baut zum großen Teil auf Theorien auf, die im 20. Jahrhundert entwickelt wurden, wie die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik.
Beide sind faszinierende und weitgehend erfolgreiche Modelle, die unser Verständnis der Naturgesetze revolutioniert haben. Dennoch haben sich Wissenschaftler seit Jahrzehnten verstärkt darauf konzentriert, Theorien zu entwickeln, die „über“ diese bestehenden Modelle hinausgehen – sei es durch Theorien zur Vereinigung von Gravitation und Quantenmechanik oder durch alternative Modelle der Kosmologie. Diese Suche geht oft mit einer tief verwurzelten philosophischen Annahme einher: Neue Erkenntnisse müssen bestehende Theorien grundsätzlich widerlegen oder ersetzen. Carlo Rovelli, ein angesehener theoretischer Physiker, hat kürzlich in einem vielbeachteten Beitrag hervorgehoben, dass diese Haltung nicht nur unproduktiv, sondern auch gefährlich sein kann. Die Erwartung, dass Fortschritt nur durch radikalen Bruch mit bestehenden Paradigmen möglich ist, führt dazu, dass vielversprechende Forschungsrichtungen verworfen oder ignoriert werden, wenn sie nicht als „revolutionär“ genug gelten.
Dabei zeigen viele experimentelle Ergebnisse seit Jahrzehnten, dass die etablierten Theorien des 20. Jahrhunderts nach wie vor äußerst robust sind und sich immer wieder bestätigt haben. Ein Grund für diese Verstrickung in schlechte Philosophie liegt darin, wie theoretische Physiker oft mit Unsicherheit und Interpretation umgehen. Anstelle einer pragmatischen und empirisch fundierten Haltung entwickelt sich oftmals eine fast dogmatische Fixierung auf theoretische Eleganz oder philosophische Konsistenz, die nicht immer mit Beobachtungen korreliert. Wenn dann neue Theorien vorgeschlagen werden, müssen sie oft nicht nur empirisch bestätigt werden, sondern auch in ideologischer Hinsicht den „einzig richtigen“ philosophischen Rahmen erfüllen – eine Bedingung, die philosophisch betrachtet höchst fragwürdig ist.
Die historische Wissenschaft zeigt, dass großer Fortschritt selten durch radikale Ablehnung Bewährten zustande kommt, sondern durch Korrekturen, Erweiterungen und Umformulierungen bestehender Konzepte. Kopernikus hat das geozentrische Weltbild nicht einfach ausgelöscht, sondern es durch das heliozentrische erweitert. Newtons Gesetze ergänzten das Wissen um Bewegungen, ohne die früheren Erkenntnisse völlig zu negieren. Auch Einstein hat die Newtonsche Mechanik nicht verworfen, sondern sie in einem größeren Rahmen erklärt und erweitert. Doch durch eine Philosophie, die ständig nach Revolutionen und spektakulären Paradigmenwechseln sucht, wird der wichtige Prozess der Evolution von Theorien oft zu Gunsten von radikalen Ideen vernachlässigt.
Diese Vorgehensweise hat nicht nur Konsequenzen für die Forschung selbst, sondern auch für die Nachwuchswissenschaftler. Junge Physiker, die neue Ideen und alternative Zugänge verfolgen wollen, stoßen oft auf ein Umfeld, das konservativ und resistent gegenüber scheinbar nicht konformen Ansätzen ist. Die wissenschaftliche Kultur in einigen Bereichen der theoretischen Physik neigt dann dazu, etablierte Denkweisen zu schützen, was Innovation und Kreativität hemmt. Ein weiteres Problem sind Missverständnisse bezüglich der Rolle von philosophischen Überlegungen in der Physik. Philosophie sollte eigentlich ein Werkzeug sein, um Forschung zu reflektieren, zu hinterfragen und zu strukturieren.
Allerdings wird sie manchmal als dogmatisches Korsett verstanden, das unflexible Regeln und Dogmen vorgibt. Dies führt dazu, dass physikalische Forschung sich weniger an der Natur, sondern mehr an strengen und starren ikonographischen Konzepten orientiert, die mit der Realität nicht immer vereinbar sind. Gerade in den Grenzgebieten der Physik, etwa bei der Quantengravitation oder der fundamentalen Interpretation der Quantenmechanik, sind philosophische Prinzipien besonders bedeutsam. Doch ein offener und pluralistischer philosophischer Ansatz, der verschiedene Interpretationen erlaubt und auch alternative Modelle legitimiert, findet oft wenig Resonanz. Stattdessen dominieren bestimmte philosophische Linien, die wissenschaftlichen Diskurs einengen.
Die Konsequenzen daraus sind weitreichend. Forschung, die sich nicht frei entfalten kann, läuft Gefahr, wichtige Entdeckungen zu verpassen. Zudem kann sie Ressourcen binden, die besser in vielfältige Ansätze investiert wären, um unterschiedliche Aspekte der Realität zu erforschen. Physik ist eine Wissenschaft, die auf empirischen Belegen basiert, dennoch darf sie sich nicht von übermäßigen philosophischen Einschränkungen knebeln lassen. Ein Appell an die Physikgemeinschaft ist daher: Öffnet euch für eine wohlüberlegte, aber vor allem offene und pragmatische Philosophie.
Nutzt philosophische Überlegungen als flexibles Instrumentarium, um Forschung zu fördern, anstatt sie einzuschränken. Anerkennt, dass Fortschritt nicht immer „revolutionär“ sein muss, sondern oft schrittweise, durch Verfeinerung vorhandener Modelle erfolgt. Darüber hinaus sollten Bildungseinrichtungen und Forschungseinrichtungen Physiker darin bestärken, sich kritisch mit philosophischen Fragen auseinanderzusetzen, ohne einen dogmatischen Rahmen vorzugeben. Ein kritisches Verständnis der Philosophie kann helfen, Denkfehler zu vermeiden, und die Kreativität fördern, die so dringend benötigt wird, wenn es darum geht, fundamentale Rätsel der Physik zu lösen. Abschließend ist es wichtig zu unterstreichen, dass die Schnittstelle zwischen Philosophie und Physik nicht als Hindernis, sondern als Bereicherung verstanden werden muss.