Die Hadza sind eine indigene Jäger-und-Sammler-Gemeinschaft, die in der nördlichen Region Tansanias lebt und seit Generationen einen Lebensstil pflegt, der auf gemeinschaftlichem Teilen und gegenseitiger Abhängigkeit beruht. Diese außergewöhnliche Population wird häufig als Modell menschlicher Ursprünge betrachtet und liefert wertvolle Informationen über soziale Strukturen, materielle Verteilung und die Evolution von Fairness und Gleichheit. Während viele Studien von einer universellen Neigung zur Gleichheit ausgehen, offenbart eine aktuelle Untersuchung der Hadza jedoch ein differenzierteres Bild, das unsere Annahmen über menschliches Sozialverhalten in Frage stellt. Dabei zeigt sich, dass Ablehnung von Ungleichheit besonders dann eintritt, wenn der Einzelne daraus einen Nachteil ziehen würde – eine Erkenntnis mit weitreichenden Implikationen für Anthropologie, Verhaltensökonomie und soziale Philosophie. Die vorliegende Forschung basiert auf einem innovativen Experiment, das von Wissenschaftlern verschiedener Universitäten durchgeführt wurde, darunter die University of Pennsylvania und Washington State University.
Im Mittelpunkt standen 117 Hadza-Teilnehmer, die in einer besonders authentischen Spielsituation dazu aufgefordert wurden, Ressourcen – in diesem Fall Lebensmittel - zwischen sich und einem anderen Stammesmitglied entweder sinnvoll umzudistribuieren oder zu behalten beziehungsweise wegzunehmen. Diese sogenannte „Give-or-Take“-Methode ist eine Abweichung von herkömmlichen Experimenten, bei denen das Geben im Vordergrund steht und überprüft, wie Menschen unter realitätsnahen Bedingungen mit Vorteilen oder Nachteilen umgehen. Die Ergebnisse überraschen und illustrieren die Komplexität sozialer Präferenzen. Die meisten Hadza zeigten keine uneingeschränkte Gleichheitspräferenz. Stattdessen wurde Ungleichheit geduldet, wenn sie einen persönlichen Vorteil brachte.
Das heißt, Ungleichheiten wurden primär dann abgelehnt, wenn sie anderen zugutekamen und den eigenen Status verschlechterten. Weniger als die Hälfte der Teilnehmer teilten tatsächlich von eigenen Vorteilen mit anderen. Stattdessen haben viele entweder komplett nichts geteilt oder sogar zusätzliche Ressourcen hinzugenommen, was die Ungleichheit weiter verstärkte. Besonders auffällig war, dass in Situationen mit ungünstigen Ausgangsverteilungen zahlreiche Probanden mehr Ressourcen beanspruchten, als notwendig gewesen wäre, um eine Gleichberechtigung herzustellen, was die Tendenz zur Selbstförderung unterstreicht. Diese Verhaltensweise widerspricht teilweise der populären Vorstellung von Menschen als eingeborene, selbstlose Fairness-Anhänger.
Vielmehr scheinen die Hadza in ihrem Verhalten strategisch zu handeln und ihre Entscheidungen basieren häufig auf unmittelbaren Eigeninteressen. Gleichzeitig ist es bemerkenswert, dass völliger Egoismus selten auftrat. Vielfach balancieren die Individuen zwischen Eigenvorteil und sozialer Rücksichtnahme, was auf komplexe soziale Normen und möglicherweise auf einen Mechanismus der sozialen Kontrolle hinweist. Dieser Mechanismus könnte durch „Demand Sharing“ geprägt sein – ein System, bei dem soziale Erwartungen und das Risiko sozialer Sanktionen das Teilen oder Nicht-Teilen beeinflussen. Hierdurch entsteht eine Gemeinschaftsstruktur, die trotz individueller Eigeninteressen eine Form von Gleichheit und Zusammenhalt wahrt.
Darüber hinaus offenbarten sich geschlechtsspezifische und altersbedingte Unterschiede innerhalb der Gruppe. Männer und jüngere Hadza tendierten eher dazu, von Vorteil zu teilen als Frauen oder ältere Mitglieder. Diese Differenzen könnten auf unterschiedliche Rollen innerhalb der Gemeinschaft zurückzuführen sein, wie die Jagd, Beschaffung oder Aufzucht von Kindern. Solche Faktoren beeinflussen wiederum soziale Verpflichtungen und die Bereitschaft, Ressourcen zu teilen. Insgesamt zeigt sich, dass Fairnesspräferenzen nicht homogen sind, sondern durch soziokulturelle und individuelle Merkmale geprägt werden.
Interessanterweise wurde auch ein Zusammenhang zwischen der kulturellen Exposition gegenüber Außenwelten und der Toleranz gegenüber Nachteilen festgestellt. Hadza, die häufiger mit außerhalb ihrer Gemeinschaft liegenden Kulturen in Kontakt kamen, waren eher bereit, Nachteile für sich selber in Kauf zu nehmen und akzeptierten somit größere Ungleichheiten zu ihren Lasten. Dieses Phänomen deutet darauf hin, dass die durch Markorientierung und Außenkontakte bedingte Integration in größere Wirtschaftssysteme nicht nur größere materielle Ungleichheit mit sich bringen kann, sondern auch Normen einer höheren Toleranz gegenüber Nachteilen etabliert. Solche Veränderungen reflektieren die Anpassung traditioneller Gemeinschaften an moderne sozioökonomische Kontexte. Diese Erkenntnisse stellen einen bedeutenden Beitrag zur Debatte um die Ursprünge und Funktionsweisen von Egalitarismus dar.
Im Gegensatz zu der Annahme, dass Gleichheit aus einer intrinsischen, anderenwohlorientierten Fairness entsteht, verdeutlichen die Hadza-Daten, dass Egoismus und Reziprozität unter sozialer Kontrolle entscheidende Faktoren sind. Es entsteht ein Bild einer pragmatischen Egalitarismusform, bei der das individuelle Wohl im Zentrum steht, während soziale Mechanismen ein gemeinsames Vermögen an Ressourcen und Kooperationen sichern. Für Anthropologen und Verhaltensforscher bedeuten diese Ergebnisse, dass Gleichheitsnormen nicht als universell feststehende und individuelle Präferenzen verstanden werden sollten. Stattdessen sind sie das Resultat von komplexen sozialen Interaktionen und kollektiven Strategien. Diese Strategien sichern das Überleben und den Zusammenhalt der Gruppe, indem sie ein Gleichgewicht zwischen persönlichem Gewinn und sozialer Verantwortung schaffen.
Die Forschungsergebnisse werfen auch spannende Fragen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung indigener oder traditioneller Gemeinschaften auf. In einer Zeit zunehmender Globalisierung und wachsender Markteinflüsse ist zu erwarten, dass sich soziale Normen, Rollen und Verteilungsmechanismen weiter verändern. Das Verständnis, wie externe Faktoren die innere Dynamik von Gleichheit und Ungleichheit beeinflussen, kann wichtige Hinweise auf die Förderung von sozialer Gerechtigkeit und sozialem Zusammenhalt in diversifizierten Gesellschaften geben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hadza-Jäger und Sammler von Tansania ein differenziertes Bild von Gleichheitsvorstellungen offenbaren. Ungleichheit wird zwar nicht generell abgelehnt, aber besonders dann zurückgewiesen, wenn sie den Einzelnen selbst benachteiligt.
Dieses Verhalten reflektiert eine komplexe Interaktion von Eigeninteresse, sozialer Kontrolle und kulturellen Normen, die zusammen eine funktionale Form von Egalitarismus formen. Daran wird deutlich, dass Fairness in der Menschheitsgeschichte keine absolute Kategorie ist, sondern ein situativ anpassbares Konzept, das unter Einbeziehung des eigenen Wohls fungiert. Die Untersuchung der Hadza liefert damit fundamentale Einblicke in die Evolution und Funktionsweise sozialer Gleichheit und der Vielfalt menschlicher Sozialisation.