Gehen als Quelle der Kreativität – diese einfache und doch tiefgründige Erkenntnis vermittelt Craig Mod, ein renommierter Schriftsteller, Fotograf und Walker, der seit über zwei Jahrzehnten in Japan lebt. Für ihn ist das Gehen kein bloßer Akt der Fortbewegung, sondern eine vielseitige Inspirationsquelle, die Kreativität entfacht und den Geist in einen befruchtenden Zustand versetzt. Seine Erfahrungen, die er in langen Wanderungen auf historischen Pfaden Japans sammelt, zeigen, wie Langeweile nicht etwa ein Hindernis, sondern die Initialzündung für neue Gedanken und Worte sein kann. Craig Mods Praxis ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich und zugleich bemerkenswert nachvollziehbar. Er begibt sich frühmorgens auf große Tagesetappen, die oft zwischen zwanzig und vierzig Kilometern liegen.
Während er unterwegs ist, sucht er aktiv den Kontakt zu seiner Umgebung: Das bedeutet, dass er nicht nur Landschaften betrachtet, sondern auch mit Menschen spricht, die oft in scheinbar abgelegenen Dörfern leben. Ob ein alter Tatami-Matten-Weber, ein Ladenbesitzer eines kleinen Gemüsegeschäfts oder Kinder auf dem Schulweg – Mod tritt mit ihnen in Austausch, erzählt ihnen von der Schönheit ihres Ortes und hält diese Begegnungen fotografisch fest. Diese Begegnungen öffnen ihm Türen zu Geschichten, die sonst im Verborgenen blieben. Dabei ist seine gute Sprachkenntnis und die langjährige Vertrautheit mit Japan ein wichtiger Faktor. Doch nicht nur die Gespräche selbst sind es, die Mod inspirieren, sondern vor allem der Rhythmus des Gehens und das scheinbare Nichts dazwischen.
Er verzichtet bewusst auf alle Formen digitaler Ablenkung: keine sozialen Medien, kein Podcast, keine Musik, kein Nachrichtenkonsum. Dieser Verzicht erzeugt eine Leere, die manchen vielleicht als unangenehm erscheint, die für ihn jedoch wie eine Quelle sprudelnder Kreativität ist. Langeweile wird in unserer hektischen Zeit oft verteufelt. Sie gilt als etwas, das es zu überwinden gilt – was verständlich ist, wenn man bedenkt, wie verlockend permanente Unterhaltung und Ablenkung heute sind. Craig Mod jedoch begegnet der Langeweile mit einer ganz anderen Haltung: Für ihn ist Langeweile nicht das Gegenteil von Kreativität, sondern deren Bedingung.
In der Stille und Leere seiner Gedanken, die sich während der langen, monotonen Gehphasen einstellt, scheint sein Geist besonders produktiv zu arbeiten. Worte kommen ihm zu, Bilder formen sich, Erzählungen nehmen Gestalt an. „From this boredom, words flow. I can’t stop them“, sagt er. Aus der Langeweile, aus dem scheinbaren Nichts, sprießen die Worte wie aus einer verborgenen Quelle.
Diese kreative Kraft des Gehens ist nicht nur ein persönliches Erlebnis, sondern resultiert auch in konkreten Ergebnissen: Während seiner Wanderungen diktiert Mod fortlaufend seine Gedanken und Erlebnisse in sein Smartphone. Am Abend, nach den langen Etappen und der physischen Erschöpfung, setzt er sich an die Arbeit, ordnet seine Aufnahmen, reflektiert seine Notizen und schreibt Essays, die oft mehrere tausend Worte umfassen. Daraus entstehen sogenannte „Pop-up Newsletter“ – zeitlich begrenzte Publikationen, die eine begrenzte Anzahl von Lesern erreichen, bevor sie gelöscht werden. Diese Form wählt er bewusst, um eine frische, bewusste Leserschaft zu erreichen und den Geist eines Ereignisses, einer vorübergehenden Erfahrung zu vermitteln. Mod erlebt das Gehen als eine Art rohes, unmittelbares Eintauchen in die Welt, das in der digitalen Welt nur schwer reproduzierbar ist.
Der Verzicht auf Smartphone und Co. schafft Raum für echtes Erleben, für das Hören der Natur, das Erspüren der eigenen Körperlichkeit und das Entdecken von Details, die sonst vernachlässigt werden. Damit kehrt der Wanderer zu einem Zustand zurück, der in unserer beschleunigten Welt selten geworden ist: ein Zustand des vollen Bewusstseins und der entspannten Aufmerksamkeit. Was Craig Mod außerdem beeindruckt, ist die Erkenntnis von der „Fülle“ eines so erlebten Tages. Schon allein das Zurücklegen großer Distanzen zu Fuß fordert Geduld und Durchhaltevermögen, doch die Kombination mit dem kreativen Prozess macht den Tag zu etwas Besonderem.
Das Gefühl, etwas Sinnstiftendes geschafft zu haben, ist nicht bloß das Resultat körperlicher Anstrengung, sondern entsteht vor allem im kreativen Schöpfungsakt. Die hundertfachen kleinen Begegnungen, die Sammlung der Geschichten, die Aufnahmen von flüchtigen Momenten und schließlich die Verschriftlichung all dieser Eindrücke führen zu einem Gefühl vollständiger Ausnutzung der Zeit – zu einem „max full“-Tag, wie Mod es nennt. Darüber hinaus inspirieren Mods lange Wanderungen ihn zu groß angelegten Projekten und Büchern. So wurde die tausend Kilometer lange Route, die er während der Corona-Pandemie auf der Kii-Halbinsel zurücklegte, zur Basis für sein Buch „Things Become Other Things“. Das Gehen ermöglicht ihm, einen Zugang zu Erlebnissen, Erinnerungen und Emotionen zu finden, die sonst schwer greifbar gewesen wären.
Die Langeweile, die anfänglich vermutlich ausbrechende innere Unruhe, wandelt sich in Mut und die Kraft zur Reflexion. Craig Mods Praxis offenbart eine tiefergehende Wahrheit über den kreativen Prozess in Zeiten, in denen die Reizüberflutung allgegenwärtig ist: Nur durch die bewusste Selbstbeschränkung auf „echte“ Erfahrung und durch das Zulassen von Langeweile wird ein Raum geschaffen, in dem Ideen und Worte frei fließen können. Die Gefahr virtueller Ablenkung scheint heute größer denn je, und viele Menschen sind daran gewöhnt, permanent stimuliert zu sein – oft leidet darunter die Fähigkeit zur Konzentration und zur schöpferischen Kontemplation. Das Gehen, so zeigt Mod, bietet hier eine Lösung, indem es den Körper in Bewegung bringt und gleichzeitig den Geist in eine Form entspannter Leere versetzt. Ohne die Versuchung, das Smartphone zu checken oder neue Informationen zu konsumieren, entsteht ein mentaler Freiraum, der die Verbindung zu tieferen Gedanken und Gefühlen herstellt.
Damit schafft der Spaziergang eine kreative Atmosphäre, die nicht überfordert, sondern nährt und fördert. Zudem ist es auch das bewusste Wahrnehmen der Umgebung, das den kreativen Prozess beflügelt. Die Begegnungen mit Menschen, die Wahrnehmung von Details in der Natur und im urbanen Raum, das Hören von Geschichten und das Entdecken unbekannter Orte – all das fügt sich zu einem Erfahrungsfundament, das Inspirationen und Erzählstoff bietet. Das Gehen wird so selbst zum kreativen Akt, und das Schreiben, Fotografieren und Erzählen sind seine unmittelbare Fortsetzung. Craig Mod ist mit seiner Herangehensweise ein moderner Wanderer, der nicht nur Wege beschreitet, sondern auch innere Pfade erschließt.
Er lebt vor, wie man mit Geduld, Offenheit und der Bereitschaft, Langeweile auszuhalten, zu neuen kreativen Höhen aufsteigen kann. Für viele Kreative kann sein Beispiel eine Aufforderung sein, den hektischen Alltag zu entschleunigen und sich offen für das scheinbar Unbedeutende zu zeigen, das sich bei genauem Hinschauen oft als Quelle großer Inspiration erweist. In einer Welt, die sich immer schneller dreht und in der wir uns oft von Bildschirmen und unmittelbarer Befriedigung leiten lassen, erinnert Craig Mod daran, dass Kreativität ein Prozess des Wartens sein kann. Das Unterwegssein zu Fuß, die Bereitschaft, stillzustehen und sich im eigenen Kopf zu verlieren, sind wichtige Schlüssel für schöpferische Entfaltung. Hier offenbart sich eine einfache, aber tiefgreifende Wahrheit: Wer sich auf die Langsamkeit einlässt und die Langeweile zulässt, der schafft die besten Voraussetzungen, damit Worte und Gedanken frei fließen können.
Die kreative Kraft des Gehens ist damit nicht bloß eine praktische Methode für Künstler und Schriftsteller, sondern eine Haltung, die jeden Menschen im Alltag bereichern kann. Sie bedeutet, sich Zeit zu nehmen, um aufmerksam zu sein, den Geist zu klären und Inspiration bewusst zu suchen. Wenn man sich auf den Weg macht, nicht nur körperlich, sondern auch geistig, kann das Gehen zu einem schöpferischen Ritual werden, das neue Horizonte öffnet und die Welt mit anderen Augen sehen lässt.