Im digitalen Zeitalter erleben wir, wie die Grenzen zwischen verschiedenen Disziplinen zunehmend verschwimmen. Vor allem gilt das für den Bereich der Programmierung: Längst sind es nicht mehr nur professionelle Softwareentwickler, die Code schreiben. Domain-Experten, also Fachleute mit tiefem Wissen in ihren jeweiligen Spezialgebieten, finden zunehmend Wege, selbstständig Softwarelösungen für ihren Arbeitsbereich zu entwickeln. Eine spannende Methode, die sich hierbei etabliert, ist das sogenannte Vibe Coding. Dieses Konzept eröffnet neue Möglichkeiten für Menschen, deren Expertise inhaltlicher Natur ist, die aber nicht die klassische Ausbildung als Entwickler besitzen.
Vibe Coding beschreibt den Prozess, bei dem Code mithilfe von Künstlicher Intelligenz – speziell großen Sprachmodellen (Large Language Models, kurz LLMs) – erstellt wird, ohne dass jeder einzelne Codeabschnitt penibel überprüft wird. Anders als bei klassischen Softwareentwicklungsprozessen steht hier das fachliche Verständnis des Anwendungsfalls im Mittelpunkt. Die KI generiert den Code basierend auf Aufforderungen und Anweisungen, die vom Nutzer formuliert werden. Die erstellten Lösungen sind funktional, müssen jedoch nicht immer den hohen Standards professioneller Softwareentwicklung entsprechen. Für viele Anwendungen, insbesondere Einmallösungen oder Datenverarbeitungen in spezifischen Fachbereichen, reicht das aus – und eröffnet einen neuen Weg für Domain-Experten, ihre Arbeit digital umzusetzen.
Derek Willis, ein erfahrener Journalist und langjähriger Programmierer, hat die Vorteile und Grenzen von Vibe Coding im Kontext der Wahldatenverarbeitung eindrucksvoll beschrieben. Seine Geschichte zeigt, wie subjektives Expertenwissen und KI sich gegenseitig ergänzen können. Willis arbeitet seit über 20 Jahren mit Software, jedoch nicht als klassischer Entwickler, sondern als jemand, der Code primär für journalistische Zwecke einsetzt. Seine Programme sind funktional und pragmatisch, aber nicht notwendigerweise elegant oder robust genug für industrielle Anwendungen. Ein Paradebeispiel für Vibe Coding gab Willis mit dem Python-Projekt Clarify, das ursprünglich gemeinsam mit einem erfahrenen Entwickler zur Verarbeitung von Wahldaten angelegt wurde.
Clarify wandelt komplizierte XML-Daten von Wahlsoftware in maschinenlesbare und standardisierte CSV-Dateien um. Für jemanden, der nicht tief in der Programmierung steckt, stellt das eine immense Herausforderung dar, gerade wenn die ursprünglich genutzte Python 2-Version veraltet und inkompatibel wird. Statt mühsam und zeitaufwendig selbst alle Programmteile komplett neu zu schreiben und zu verstehen, nutzte Willis KI-Tools, um Clarify zu aktualisieren. Dieser Ansatz zeigt die Besonderheit von Vibe Coding: Die KI schlägt Änderungen und Verbesserungen am Code vor, überprüft Kompatibilitäten und schreibt auf Aufforderung weiter. Doch das letztendliche Qualitäts- und Funktionsurteil fällt durch die fachliche Expertise des Domain-Experten.
Nur jemand, der genau weiß, wie Wahldaten korrekt aussehen müssen und welche Besonderheiten es in bestimmten US-Bundesstaaten gibt, kann beurteilen, ob die Software auch wirklich funktional ist. Diese Kombination von KI-unterstützter Kodierung und Domänenwissen führt zu einem Produkt, das praktikabel und nutzbar ist, von dem seine Nutzer aber vielleicht anders nie profitiert hätten. Der Begriff „Vibe Coding“ mag zunächst etwas schwammig klingen, doch die dahinterstehende Idee ist klar: Es ist keine perfekte, professionelle Programmierung notwendig, um wirkungsvolle Ergebnisse zu erzielen. Gerade wenn es sich um einmalige Datenumwandlungen, Web-Scraping oder kleinere Automatisierungen handelt, die niemand sonst genau so gut erledigen kann, ist Vibe Coding ideal. Domain-Experten können mit etwas Unterstützung durch KI schneller und effektiver digitale Lösungen erschaffen, selbst wenn sie keine tiefgehenden Programmierkenntnisse besitzen.
Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt ist die pädagogische Komponente. Derek Willis hat Vibe Coding beispielsweise in seiner Lehre eines KI- und Journalismus-Kurses integriert. Seine Studierenden, von denen viele kaum Programmiererfahrung hatten, konnten mit Hilfe von KI-Tools innerhalb kurzer Zeit funktionale Webseiten und Datenvisualisierungen erstellen. Diese konnten mit interaktiven Elementen und aussagekräftigen Diagrammen aufwarten – und zeigten, dass auch Neulinge mit entsprechender Anleitung und KI-Unterstützung erstaunliche Ergebnisse erzielen können. Damit wird Vibe Coding auch zu einem idealen Mittel, um digitalen Grundsatzwissen zu vermitteln und Mut zu machen, selber mit Code zu experimentieren.
Trotz aller Vorteile hat Vibe Coding auch seine Grenzen. Insbesondere fördert der Prozess nur dann die Weiterentwicklung der Programmierfähigkeiten des Nutzers, wenn dieser auch selbst kritisch am Code arbeitet, versteht, was passiert, und gegebenenfalls selbst eingreift. Wer ausschließlich auf die Vorschläge der KI vertraut, verbessert seine eigenen Fähigkeiten kaum. Auch können bei fehlender Kontrolle Fehler und unerwartete Probleme im Code verborgen bleiben, die kritisch werden könnten, wenn es sich um sensible oder sicherheitsrelevante Anwendungen handelt. Von daher ist Vibe Coding für Domains mit hohem Sicherheitsanspruch wie Energiesysteme oder medizinische Geräte weniger geeignet – hier erfordert die Entwicklung gegenwärtig weiterhin erfahrene Fachprogrammierer.
Nichtsdestotrotz stellt Vibe Coding vor allem für Journalisten, Wissenschaftler, Datenanalysten und andere Fachleute eine revolutionäre Möglichkeit dar. Sie müssen nicht mehr zwingend programmieren lernen, um digitale Werkzeuge zu nutzen. Vielmehr können sie ihr Expertenwissen in Textform ausdrücken, das die KI als Grundlage zur Codeerstellung nutzt. Diese Entwicklung verkürzt Entwicklungszeiten erheblich und öffnet die digitale Welt für ein breiteres Publikum. Die Zukunft von Vibe Coding könnte zudem noch spannender werden.
Mit der stetigen Weiterentwicklung von KI-Sprachmodellen ist es nicht ausgeschlossen, dass diese bald nicht nur generischen, sondern hochspezialisierten Code besser verstehen und fehlerfreier generieren. Zudem könnten Kombinationen aus automatischer Code-Generierung und menschlichem Qualitätsmanagement zu hochwertigen, für größere Nutzerzahlen geeigneten Programmen führen. Für Domains mit komplexen Regularien und Spezialwissen, wie zum Beispiel Wahldaten oder Finanzsysteme, bleibt der menschliche Expertenblick jedoch weiterhin unverzichtbar. Vibe Coding zeigt eindrucksvoll, dass für domänenspezifische Softwareentwicklung nicht allein Softwareentwicklungskompetenz ausschlaggebend ist. Vielmehr sind fundierte Fachkenntnisse und Praxiswissen oft noch wertvoller, um Anforderungen exakt zu definieren und zwischen funktionalen und fehlerhaften Ergebnissen zu unterscheiden.
KI fungiert dabei als „Co-Pilot“, der das Programmieren erheblich erleichtert, schneller macht und auch für Nicht-Entwickler zugänglich gestaltet. Abschließend betrachtet kann gesagt werden, dass Vibe Coding eine neue Ära einläutet, in der Domain-Experten die Möglichkeiten und Potenziale der digitalen Welt weitreichender ausschöpfen können, ohne zum Experten in Programmiersprachen werden zu müssen. Die Kombination aus KI-gestützter Automatisierung und tiefem Fachwissen eröffnet völlig neue Perspektiven, die bisher undenkbar schienen. Vor allem wenn man bedenkt, wie viel wertvolle Arbeit in Bereichen wie der journalistischen Datenanalyse, der Erforschung komplexer Datensätze und der Transformation von Informationen in verständliche Formen geleistet wird, ist Vibe Coding eine willkommene Unterstützung auf dem Weg zu kreativen, effizienten und praxisnahen Lösungen.