Die Arktis war im frühen 20. Jahrhundert ein nahezu unerforschtes Gebiet, reich an Geheimnissen, die nur wenige mutige Forscher zu enthüllen wagten. Knud Rasmussen, geboren 1879 in Grönland mit teilweise inuitischem Erbe, gehörte zu den außergewöhnlichsten Persönlichkeiten dieser Epoche. Seine einzigartige Herkunft und sein Wissen um die grönländische Sprache ermöglichten ihm den Zugang zu den Inuit-Gemeinschaften, wie es kaum einem anderen Europäer gelungen wäre. Diese kulturelle Nähe verhalf ihm nicht nur zu einem tieferen Verständnis der indigenen Völker, sondern machte ihn auch zu einem Brückenbauer zwischen den Kulturen.
Seine größte und ambitionierteste Unternehmung, die Fünfte Thule-Expedition, die 1921 begann, verfolgte das Ziel, die Inuit-Kulturen umfassend zu dokumentieren, bevor der zunehmende Einfluss der westlichen Welt sie vollständig verändern oder zerstören würde. Die Fünfte Thule-Expedition war einer von insgesamt sieben großen Unternehmungen, die Rasmussen in seinem Forscherleben leitete. Diese Expedition brachte nicht nur eine Fülle an akribischen Aufzeichnungen hervor, sondern öffnete auch den Blick auf das komplexe soziale, kulturelle und spirituelle Gefüge der Inuit-Gruppen, die in entlegenen Regionen Nordamerikas lebten. Rasmussen wusste um die Dringlichkeit dieser Arbeit, denn die moderne Gesellschaft breitete sich kontinuierlich in die Arktis aus und bedrohte die traditionelle Lebensweise der Inuit nachhaltig. Sein Forscherdrang war nicht nur von Neugier getrieben, sondern von dem Wunsch, eine verschwindende Welt zu bewahren.
Rasmussen startete seine Expedition von einer Basis auf der sogenannten Danish Island im Foxe Channel, nahe dem heutigen Nunavut, von der aus er und sein Team die umliegenden Inuit-Gemeinschaften aufsuchten. Sein Team setzte sich aus einer Mischung von Mitgliedern zusammen: vier dänischen Forschern, einem Westgrönländer (Kalaaleq) und sechs Inughuit, den nördlichsten Bewohnern Grönlands. Diese Vielschichtigkeit spiegelte die interkulturelle Ausrichtung der Expedition wider und ermöglichte einen Zugang zu unterschiedlichen Perspektiven innerhalb der Inuit-Kulturen. Die gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte, die Rasmussen dokumentierte, umfassten unter anderem Dialekte, spirituelle Traditionen, Alltagsgewohnheiten sowie Mythen und Legenden. Ein besonders eindrücklicher Moment war die Begegnung mit einem Schamanen namens Igjugaarjuk, dessen Initiationsritual von enormer Härte geprägt war und den Herausforderungen von Kälte, Hunger und Durst trotzen musste.
Diese spirituellen Erzählungen, die Rasmussen festhielt, geben einen seltenen Einblick in die Weltanschauung der Inuit, die oft im Schatten westlicher Interpretationen stand. Das Team besuchte auch die Caribou Inuit, eine seltene inuitische Gruppe, die vom Inland aus lebte – ein wichtiger Aspekt der damals noch diskutierten Theorie des dänischen Ethnographen Hans Peder Steensby, der annahm, die Inuit seien ursprünglich eine Binnenkultur gewesen, bevor sie sich an den Küsten niederließen. Rasmussen vertraute zunächst auf diese These, was seinen Forschungsfokus prägte. Später zeigte sich jedoch, dass diese Annahme nicht der Realität entsprach, und die Inuit tatsächlich über Alaska in den Westen Amerikas eingewandert waren, bevor sie sich weiter ostwärts ausbreiteten. Diese Korrektur in der ethnologischen Forschung ist ein Beispiel, wie auch ein so erfahrener Wissenschaftler durch eigene Überzeugungen fehlgeleitet werden kann.
Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt der Expedition war der Besuch einer kürzlich christianisierten Gruppe auf der Melville Halbinsel. Die Beobachtungen über deren Übergangsphase – vom traditionellen spirituellen Leben hin zu einer christlichen Glaubenswelt – lieferten wertvolle Einblicke in den kulturellen und religiösen Wandel, der sich in dieser Region vollzog. Die Muscheln des Alten wurden abgelegt, alte Tabus fielen, während die Menschen offen über Glaubensinhalte sprachen, die sie aufgegeben hatten. Diese Übergangsmomente bergen eine besondere historische Bedeutung, da sie den Bruch und die Anpassung in kolonial geprägten Kontexten beleuchten. Neben den kulturellen Studien waren die physischen Herausforderungen der Expedition nicht minder eindrucksvoll.
Die harschen Bedingungen in der Arktis führten zu dramatischen Situationen, etwa als ein Expeditionsmitglied, Peter Freuchen, eine Selbstamputation seiner Zehen vornehmen musste, nachdem diese durch Erfrierungen schwer beschädigt waren. Solche Episoden zeigen nicht nur die menschliche Widerstandskraft, sondern verdeutlichen auch die unbändige Leidenschaft, die Rasmussen und seine Crew antrieb. Die Expedition führte Rasmussen und sein Team zuletzt bis nach Alaska, wo sie zunehmend auf Inuit trafen, die sich bereits in die Geldwirtschaft integrierten, jedoch ihre Sprache und Kultur weitgehend bewahrten. Besonders beeindruckend war die Verständigung über Dialekte hinweg, die mit seinen Kenntnissen des Grönländischen mühelos möglich war. Diese sprachliche Brücke trug wesentlich zur Tiefe seiner ethnografischen Aufnahmen bei.
Die Reise endete schließlich in Nome, Alaska, nachdem ein Plan für eine weitere Fortsetzung Richtung Sibirien an den politischen Bedingungen scheiterte. Knud Rasmussen hinterließ mit seinen Unternehmungen ein umfangreiches und einzigartiges Sprachdokument und ethnografisches Archiv, das einen unvergleichlichen Beitrag zum Verständnis der indigenen Kulturen des hohen Nordens leistet. Dass er sich nicht nur als Beobachter verstand, sondern als Teil jener Kulturen, hebt ihn von vielen anderen Forschern seiner Zeit ab und macht ihn zu einer herausragenden Figur unter den europäischen Arktisforschern. Seine Expeditionsberichte und die gesammelten Daten haben wesentlich dazu beigetragen, den Wandel der Inuit in einer Zeit des Umbruchs zu dokumentieren und bewahren. Kenn Harper, ein angesehener kanadischer Historiker und Experte für das arktische Erbe, hat mit seinem Werk „Give Me Winter, Give Me Dogs: Knud Rasmussen and the Fifth Thule Expedition“ die Geschichte dieser Expedition lebendig und zugänglich gemacht.
Er fasst die komplexen und umfangreichen Berichte so zusammen, dass sowohl Fachleute als auch Interessierte sie nachvollziehen können, ohne sich in Details zu verlieren. Harper gelingt es, die Expedition in ihrer ganzen Tragweite darzustellen – von den wissenschaftlichen Absichten über spirituelle Begegnungen bis hin zu menschlichen Abenteuern – und zugleich Respekt für die Inuit-Kultur und Rasmussens Haltung zu vermitteln. Das Vermächtnis Knud Rasmussens ist heute aktueller denn je, da die Kulturen der indigenen Völker weiterhin mit den Herausforderungen der Modernisierung und des kulturellen Wandels konfrontiert sind. Seine Arbeit erinnert daran, wie wichtig es ist, Kulturen wertzuschätzen, zu bewahren und zu verstehen. Insbesondere in Zeiten, in denen die Arktis nicht nur durch Klimawandel, sondern auch durch zunehmende wirtschaftliche Interessen im Fokus der Weltöffentlichkeit steht, bleibt Rasmussens Suche nach Wissen ein bedeutender Beitrag zum interkulturellen Dialog und historischen Bewusstsein.
So eröffneten Rasmussens Expeditionen den Weg für ein tieferes, respektvolleres Verständnis der Inuit-Kulturen und der Arktis als lebenswichtigen Teil unseres Planeten. Seine Forschungsreise ist nicht nur eine Chronik der Entdeckungen, sondern auch ein Zeugnis von Geduld, Empathie und dem Streben nach Wissen, das weit über geografische Grenzen hinausreicht.