Portugal hat in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund seiner jüngeren Geschichte mit Diktatur und der erfolgreichen Demokratisierung als politisches Ausnahmebeispiel in Europa gegolten. Die Annahme, dass das Land immun gegen den Aufstieg rechter populistischer Bewegungen sei, galt weithin als unumstößlich. Doch die jüngsten Ereignisse bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 2025 haben diese Einschätzung grundlegend verändert. Die Partei Chega, ein vergleichsweise junges politisches Projekt, hat hinter der konservativen Sozialdemokratischen Partei und vor den seit Jahrzehnten dominierenden Sozialisten den zweiten Platz errungen und ist damit zur wichtigsten Oppositionspartei aufgestiegen. Der Satz ihres Vorsitzenden André Ventura „Nichts wird mehr so sein wie zuvor“ bringt dabei den tiefgreifenden Wandel perfekt auf den Punkt.
Doch wie konnte Chega diese rasante Entwicklung nehmen und was bedeutet das für Portugal und seine politische Landschaft? Die Antwort findet sich im Spannungsfeld zwischen wachsender Unzufriedenheit, gesellschaftlichen Herausforderungen und der Schwäche traditioneller Parteien. Anfangs schien das politische System Portugals mit seinen etablierten Kräften aus der Sozialistischen Partei (PS) und der Sozialdemokratischen Partei (PSD) stabil und unerschütterlich. Diese beiden Parteien hatten den demokratischen Konsens maßgeblich geprägt und fast ununterbrochen regiert. In den letzten Jahren jedoch setzte sich immer stärker die Frustration vieler Wählerinnen und Wähler gegenüber dem politischen Establishment durch. Eine Reihe von vorgezogenen Wahlen innerhalb kurzer Zeit spiegelte nicht nur politische Instabilität, sondern vor allem auch das Gefühl eines Stillstands und mangelnder Perspektive wider.
In diesem Klima der Unzufriedenheit fand Chega die Nische, um sich als Alternative zu präsentieren. Die Partei nutzte populistische Rhetorik und besetzte Themen, die von den etablierten Parteien häufig gemieden oder verharmlost wurden. Auffallend waren Forderungen etwa nach strengeren Migrationskontrollen und extremen Strafmaßnahmen, wie der chemischen Kastration von Sexualstraftätern. Ebenso spielten Ressentiments gegen Minderheiten, beispielsweise die Roma-Bevölkerung, eine Rolle in Venturas politischer Agenda. Dabei verstand es der charismatische Gründer und Vorsitzende der Partei, André Ventura, die Gefühle vieler Bürger in Worte zu fassen und sich als Sprachrohr der enttäuschten Basis zu positionieren.
Portugiesische Sozialwissenschaftlerinnen wie Marina Costa Lobo sehen den Erfolg Chegas vor allem als eine Folge jahrelanger Enttäuschung und eines wachsenden politischen Populismus innerhalb der Gesellschaft. Nicht zuletzt hohe Wahlenthaltungsraten zeugen davon, dass viele Menschen sich von den traditionellen Parteien abgewandt haben, zugleich aber keine glaubwürdige Alternative sahen – bis Chega auftauchte. Die etablierten Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien trugen zudem durch ihr internes Zerwürfnis und den wiederholten Ruf nach vorgezogenen Wahlen zu einer sehr ermüdeten Wählerschaft bei. Anstatt die politische Ermüdung und die Zeichen der Zeit zu erkennen und zusammenzuarbeiten, um eine solide Regierung zu bilden, offenbarten sie Schwäche und Uneinigkeit, was einer radikaleren Kraft wie Chega nur zugutekam. Ein entscheidender Faktor für Chegas Aufstieg ist die Rolle der Medien in den letzten Jahren.
Anfangs war die Berichterstattung vorsichtig, doch als Ventura und seine Partei immer mehr Aufmerksamkeit erhielten und den Nerv eines großen Teils der Bevölkerung trafen, öffneten zahlreiche Medienkanäle den Raum. Zwischen 2022 und 2024 erhielt Ventura wesentlich mehr mediale Präsenz als der damalige Premierminister Luís Montenegro von der PSD, was ihm half, sein Profil zusätzlich zu schärfen. Die Medienlandschaft zeigt heute eine zunehmende Neigung, populistischen und kontroversen Stimmen Raum zu geben, da solche Themen Klickzahlen und Einschaltquoten garantieren. Dies führte zu einem Multiplikatoreffekt, der Chega's Reichweite und Einfluss erheblich steigerte. Noch während ähnliche Entwicklungen in anderen europäischen Ländern zu beobachten sind – mit dem Rückzug sozialdemokratischer Parteien und einem Erstarken rechter Kräfte – hatte Portugal bislang gegolten als sicherer Hafen vor diesen Trends.
Doch die Sozialistische Partei als ehemals starke Kraft scheint zunehmend zu kämpfen, besonders durch eine alternde Wählerschaft und mangelnde Attraktivität für junge Wähler. Ein Generationswechsel im Wählerbild tritt nicht in ausreichendem Maße ein, weshalb dynamischere und radikalere Stimmen wie jene der Chega-Bewegung Zulauf erhalten. Die Partei profitiert zudem davon, dass sie derzeit in der Opposition ist. Solche Kräfte können leichter Kritik üben und Probleme benennen als konstruktive Lösungen anzubieten. Ihre Rolle als Oppositionspartei erlaubt ihnen, sich als Außenseiter und Alternative zum etablierten System zu inszenieren.
Die entscheidende Frage bleibt, ob Chega ihren Aufstieg konsolidieren und langfristig festigen kann oder ob ihr Höhepunkt schon erreicht wurde. Politikanalysten beobachten genau, wie sich die Partei in der nächsten Phase der parlamentarischen Arbeit positioniert. Zwischen der Möglichkeit, zur politischen Normalisierung zurückzukehren, und der Gefahr einer weiteren Radikalisierung der politischen Landschaft bewegt sich das Land in einer spannenden und unsicheren Phase. Letztendlich steht Portugal am Scheideweg einer neuen politischen Ära. Die historische Annahme, dass das Land immun gegenüber populistischen und extremen Kräften sei, ist hinfällig.
Die Gesellschaft zeigt, dass sie tiefgreifender Veränderungen bedarf, um dem wachsenden Gefühl der Entfremdung, der Verunsicherung und auch der Ängste gerecht zu werden. Ob die etablierten Parteien daraus die richtigen Schlüsse ziehen und eine glaubwürdige Antwort geben können, wird darüber entscheiden, wie sich die politische Landschaft in Portugal in den kommenden Jahren gestalten wird. Klar ist jedoch: „Nichts wird mehr so sein wie zuvor“ – ein Satz, der nicht nur Chegas Prognose für sich selber ist, sondern den Wandel eines ganzen Landes treffend beschreibt.