Das Buch von Leinster, auch bekannt als das mittelalterliche Wikipedia Irlands, ist ein außergewöhnliches Manuskript aus dem 12. Jahrhundert, das kürzlich nach mehreren Jahren sorgfältiger Restaurierung erstmals wieder öffentlich präsentiert wurde. Es handelt sich dabei um eines der bedeutendsten und umfangreichsten mittelalterlichen Manuskripte Irlands und bietet einen einzigartigen Einblick in die Kultur, Geschichte und Gesellschaft des irischen Mittelalters vor der anglo-normannischen Invasion. Das Manuskript, das auf hochwertigem Kalbspergament geschrieben und mit alten und mittleren irischen Texten versehen ist, wurde einst von Áed Ua Crimthainn zusammengestellt, der als Abt des Klosters Tír-Dá-Glas (heutiges Terryglass, County Tipperary) tätig war. Seine Arbeit spiegelt die Komplexität und den Reichtum der irischen Überlieferung und Identität wider und macht es zu einem unverzichtbaren Werk für Wissenschaftler und Interessierte.
Das Buch von Leinster umfasst vielfältige Inhalte, darunter Mythen, Legenden, historische Berichte und sogar gesellschaftliche Strukturen. Besonders hervorzuheben ist ein detailliertes Diagramm, das die Sitzordnung in der Teach Miodhchuarta, der Meadhall am Hill of Tara, illustriert. In diesem symbolreichen Plan sitzt der König in der Mitte, ohne Tisch, aber mit einem langen Spieß in der Mitte, von dem das Fleisch aufgespießt wird. Die Sitzordnung zeigt deutlich, dass neben den Adeligen auch Poeten, Musiker und Schreiber den gleichen Rang innehatten, was die kulturelle Bedeutung dieser Berufsgruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft unterstreicht. Dabei wird auch die Rolle des Hofnarren hervorgehoben, dessen Bild im Manuskript enthalten ist.
Die Hierarchie wird durch eine ausführliche Beschreibung der Fleischstücke ergänzt, die der König als Erster erhält. Besonderes Interesse wecken die zahlreichen mythologischen Erzählungen, darunter bedeutende irische Sagen wie Táin Bó Cúailnge, die „Rinderraub von Cooley“, die den Helden Cú Chulainn in den Mittelpunkt stellt. Darüber hinaus enthält das Buch eine Erzählung über die Belagerung von Troja sowie die Lebor Gabála Érenn, die eine mythische Herkunftsgeschichte der irischen Bevölkerung und Sprache darstellt. Diese Schriften versuchten, die Existenz Irlands und der irischen Menschen innerhalb eines biblischen Weltbilds zu verorten, was für die damalige Zeit von enormer kultureller Bedeutung war. Die Geschichte von Breogán, der einen hohen Turm in der Stadt Brigantium (heute A Coruña in Spanien) baute und von dort seinen Sohn auf das neu entdeckte Irland blicken ließ, ist so eng mit den galicischen Ursprungssagen verbunden, dass die entsprechende Seite des Buches von Leinster sogar für eine Ausstellung in Santiago de Compostela ausgeliehen wurde.
Die Bedeutung des Buches geht weit über seine historischen Inhalte hinaus. Vor seiner jüngsten Restaurierung war das Manuskript in einem schlechten Zustand und durch frühere Konservierungsmethoden stark beschädigt. Besonders die Verwendung bestimmter chemischer Behandlungen führte zu dauerhaften Flecken, die die Lesbarkeit einzelner Seiten erheblich beeinträchtigten. Dank eines von der Bank of America finanzierten, zweijährigen Restaurierungsprojekts an der Trinity College Library Dublin konnte das Manuskript jedoch stabilisiert und wiederhergestellt werden. Dabei wurde unter anderem neues Kalbspergament verwendet sowie beschädigte Bereiche mit dünner Kollagenstruktur verstärkt.
Für zukünftige Forschungen wird auch eine DNA-Analyse des Pergaments angestrebt, um den Ursprung und das Alter des Materials genauer bestimmen zu können. Caoimhe Ní Ghormáin, Kuratorin für mittelalterliche irische Manuskripte an der Trinity College Dublin, beschreibt das Buch von Leinster als das „Wikipedia der Zeit“ für irische Gelehrte. Diese Sichtweise hebt hervor, wie umfassend und zentral das Werk für das Verständnis der irischen Geschichte, Sprache und Identität im Mittelalter ist. Es bietet eine unvergleichbare Sammlung unterschiedlichster Texte, die von religiösen Erzählungen über historische Chroniken bis hin zu kulturellen und sozialen Einblicken reichen. Darüber hinaus zeigt das Manuskript auch, wie wichtig es den mittelalterlichen Schreibern war, die irische Sprache und Identität im großen Kontext der bekannten Welt zu verorten und so eine kulturelle Kontinuität zu schaffen.
Die Öffentlichkeit kann das Buch nun im Zuge der Book of Kells-Ausstellung an der Trinity College Dublin besichtigen, allerdings nur für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten, da das kontinuierliche Licht die empfindlichen Pergamentseiten beschädigen würde. Die Ausstellung bietet somit eine seltene Gelegenheit, ein Originalwerk von unschätzbarem historischem Wert aus nächster Nähe zu betrachten. Es ist beeindruckend, wie gut das Manuskript trotz seines Alters von fast 900 Jahren erhalten geblieben ist, und wie es durch moderne Konservierungsmethoden für kommende Generationen bewahrt wird. Das Buch von Leinster wird nicht nur von Historikern und Experten geschätzt, sondern weckt auch ein breites Interesse bei der allgemeinen Bevölkerung, da es Geschichten und Mythen enthält, die tief in der irischen Identität verwurzelt sind. Die Mischung aus historischen, literarischen und gesellschaftlichen Inhalten macht das Manuskript zu einem einzigartigen Fenster in die Vergangenheit Irlands, das das Leben, die Machtstrukturen und den Glauben seiner Menschen lebendig werden lässt.
Das Schicksal des Manuskripts zeigt zudem den Beitrag von Wissenschaftlern und Sammlern wie dem walisischen Gelehrten Edward Lhwyd, der das Buch vor dem Verschwinden rettete, indem er es an Sir John Sebright übergab. Sebright wiederum schenkte das Manuskript samt weiteren irischen Handschriften 1786 an die Trinity College Library, wo es seitdem aufbewahrt wird. Die Ausstellung des Buches von Leinster unterstreicht die Bedeutung historischer Manuskripte für das kulturelle Erbe und das Verständnis früherer Gesellschaften. Es erinnert daran, wie wichtig es ist, solche Dokumente zu bewahren, zu erforschen und zugänglich zu machen. Gerade im digitalen Zeitalter zeigt das mittelalterliche Wikipedia Irlands, dass die schriftliche Festhaltung von Wissen und Kultur schon seit Jahrhunderten eine wichtige Aufgabe ist.