Gesellschaften durchlaufen im Laufe der Geschichte immer wieder Phasen großer Umbrüche, Krisen und in manchen Fällen auch des Zusammenbruchs. Warum es zu solchen dramatischen Wendungen kommt, war lange Zeit Gegenstand von Spekulationen, historischen Interpretationen und politischen Debatten. Doch in den letzten Jahren bringt ein neuer wissenschaftlicher Ansatz – die sogenannte Cliodynamik – frischen Wind in die Forschung. Cliodynamik verbindet Mathematik, Datenanalyse und historische Forschung, um die Mechanismen zu verstehen, die Gesellschaften in existenzielle Schwierigkeiten bringen. Dabei entsteht nicht nur ein besseres Verständnis vergangener Zusammenbrüche, sondern es werden auch Potenziale sichtbar, zukünftige Krisen zu erkennen und ihnen vorzubeugen.
Der Kern dieses Ansatzes besteht darin, historische Ereignisse nicht nur als singuläre Geschichten zu betrachten, sondern als Ergebnis komplexer und oft wiederkehrender sozialer Dynamiken, die sich quantitativ erfassen und analysieren lassen. Angelehnt an Naturwissenschaften wie Physik oder Biologie wird Geschichte so zu einer „Naturwissenschaft“. Dabei werden Daten über soziale Strukturen, politische Machtverteilung, wirtschaftliche Faktoren und Umweltbedingungen gesammelt und in mathematische Modelle eingespeist.Die Seshat Global History Databank ist eines der bisher größten Projekte, das sich dem Sammeln solcher strukturierten historischen Daten widmet. Mit über hundert Forschenden aus aller Welt erfasst Seshat Gesellschaftsdaten über Jahrhunderte und Kontinente hinweg.
Von der Population einer Zivilisation über die Existenz professioneller Verwaltungsstrukturen bis hin zu Ereignissen wie sozialen Unruhen und klimatischen Einbrüchen werden diese Faktoren quantified, also in Zahlen übersetzt. Das ermöglicht es, Entwicklungen über lange Zeiträume und Regionen systematisch miteinander zu vergleichen und auf Muster zu prüfen.Dabei fällt ein zentrales Thema immer wieder auf: Die Rolle der Ungleichheit und der inneren Konflikte innerhalb der Eliten. Historisch gesehen markiert extreme Ungleichverteilung von Ressourcen und Macht häufig den Beginn einer „Ära der Zwietracht“. Wenn gesellschaftliche Schichten immer stärker auseinanderdriften, wächst der soziale Druck und die Frustration nimmt zu.
Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit setzt sich nicht nur bei den weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen fest, sondern schafft auch Spannungen unter den Eliten, die um Macht, Einfluss und Ressourcen konkurrieren. Das hat zur Folge, dass gesellschaftliche Institutionen zunehmend erodieren und handlungsunfähig werden.Ein Blick in die Geschichte des Römischen Reiches illustriert diese Dynamik eindrücklich. Die Konflikte rivalisierender Senatoren und Feldherrn, die soziale Spaltung zwischen Arm und Reich und die politische Instabilität führten letztendlich zum Ende der republikanischen Ordnung und zur Errichtung des Imperiums durch Julius Caesar und seine Nachfolger. Doch trotz der militärischen Stärke zerfiel die innere Kohäsion, begünstigt durch Korruption und elitäre Machtkämpfe.
Doch auch fernab der Antike zeigen sich ähnliche Muster. Die Taiping-Rebellion in China, die Russische Revolution, der Amerikanische Bürgerkrieg oder die sozialen Unruhen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts sind Beispiele für Zeiten, in denen gesellschaftliche Ungleichheit, gefolgt von Konkurrenz zwischen Eliten und wachsendem Druck der Bevölkerung, zu massiven Konflikten führte. Wichtig ist jedoch, dass die mathematische Analyse heute keine einfache Wiederholung von Geschichte postuliert. Stattdessen zeigt sie auf, welche Faktoren dazu beitragen, dass Krisen zumindest vorübergehend abgewendet werden können.
Aktueller denn je ist diese Forschung angesichts der sogenannten Polykrise unserer Zeit. Die Welt erlebt gleichzeitig und verflochten soziale, politische, wirtschaftliche und ökologische Herausforderungen, die sich gegenseitig verstärken. Der Krieg in der Ukraine beeinflusst weltweite Energie- und Lebensmittelmärkte, während Klimakatastrophen die Umwelt destabilisieren und politische Spannungen verschärfen. Die Vernetzung globaler Systeme macht lokale Schocks zunehmend unkontrollierbar – ein Systemeffekt, der in historischen Kontexten so bislang kaum beachtet wurde.Die Anwendung von Cliodynamik erlaubt es, historische Krisen als Ganzes zu verstehen und zu analysieren, wie verschiedene Faktoren zusammenwirken.
Ein Beispiel zeigt sich beim Vergleich der Pandemie-Bewältigung verschiedener Länder. Staaten mit geringerer Ungleichheit, stabileren Institutionen und höherem sozialen Vertrauen, wie Neuseeland oder Südkorea, konnten Covid-19 wesentlich effektiver kontrollieren. Hingegen gerieten Länder mit tiefen sozialen Gräben und politischer Spaltung, etwa die USA oder Teile Europas, stärker unter Druck.Die Forschung zeigt, dass die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Krisenbewältigung entscheidend von der Staatlichkeit und dem Willen sowie der Fähigkeit der Eliten abhängt, notwendige Reformen durchzusetzen und soziale Spannungen abzubauen. Gerade in Zeiten großer Ungleichheit versuchen Eliten jedoch häufig, ihren Status zu verteidigen, was Reformen erschwert und Unzufriedenheit steigen lässt.
Dabei wurde auch deutlich, dass es immer wieder historische Phasen gab, in denen es gelungen ist, den sozialen Zusammenhalt wiederherzustellen. Die Chartistenbewegung in England im 19. Jahrhundert zum Beispiel konnte mithilfe unterstützender Eliten langfristige politische und soziale Verbesserungen erkämpfen, die Grundlage für moderne Wohlfahrtsstaaten wurden. Das zeigt, dass reformorientierte Führungsverantwortung und soziale Gerechtigkeit keine Gegensätze sein müssen, sondern der Schlüssel zum Überleben und Gedeihen von Gesellschaften sein können.Die Erkenntnisse, die aus der Verbindung von Mathematik, Geschichte und Sozialwissenschaften hervorgehen, sind nicht nur akademischer Natur, sondern von großer praktischer Bedeutung.
Indem wir Muster erkennen, die zu früheren Zusammenbrüchen führten, können wir heutige Warnzeichen entschlüsseln und so präventiv wirken. Die Integration umfangreicher Daten ermöglicht die Identifikation von Parametern – sei es wachsender sozialer Ungleichheit, mangelnder staatlicher Finanzierung und Unterstützung oder eskalierender politischer Konflikte – die ein erhöhtes Risiko für gesellschaftlichen Zerfall markieren.Dies erfordert allerdings auch politischen Mut und gesellschaftlichen Willen, um Fehlentwicklungen rechtzeitig entgegenzusteuern. Offenheit für gesellschaftlichen Wandel, gerechtere Verteilung von Ressourcen und die Stärkung staatlicher Institutionen sind aus der Sicht der Cliodynamik unverzichtbar. Andernfalls droht die Geschichte in einer noch nie dagewesenen globalen Dimension zu wiederholen.
Zusammenfassend bietet die auf Mathematik basierende Analyse gesellschaftlicher Zusammenbrüche einen faszinierenden Blick darauf, wie komplexe soziale Systeme funktionieren und warum sie versagen können. Gleichzeitig liefert sie ein Werkzeug, mit dessen Hilfe die Zukunft nicht nur besser verstanden, sondern auch positiv beeinflusst werden kann. Der Schlüssel liegt im Erkennen von Zusammenhängen, im Lernen aus der Vergangenheit und in der Bereitschaft, rechtzeitig zu handeln, um eine nachhaltige und stabile Gesellschaft zu fördern.