Im Jahr 2015 rückte ein weitgehend verborgenes gesellschaftliches Phänomen vermehrt in den Fokus: westliche Frauen, meist junge Erwachsene oder Jugendliche, die sich entschieden, aus ihren Heimatländern nach Syrien zu reisen, um dort als sogenannte „Isis-Bräute“ zu leben. Ihre Geschichten sind komplex, erschütternd und vielfach von Ideologien geprägt, die auf einen idealisierten, vermeintlich perfekten islamischen Staat verweisen. Ermittlungen und Berichte, die auf jahrelangen Recherchen und Gesprächen mit betroffenen Frauen basieren, gewähren einen aufschlussreichen Einblick in die geheimnisvolle Welt dieser Frauen und deren Beweggründe. Die Beweggründe für die Entscheidung, sich dem Islamischen Staat (IS) anzuschließen, sind vielschichtig und können nicht auf ein einziges Motiv reduziert werden. Viele dieser Frauen stammen aus bürgerlichen oder bildungsnahen Verhältnissen in westlichen Ländern.
Sie zeichnen sich oft durch ein Gefühl der Isolation und Entfremdung aus, sowohl in ihrer Familie als auch im gesellschaftlichen Umfeld. Oft berichten sie von Erfahrung mit Diskriminierung, Mobbing oder einem Gefühl der Identitätslosigkeit im fremden sozialen Kontext. Die Unzufriedenheit mit den Lebensumständen und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Sinnhaftigkeit scheinen hier eine entscheidende Rolle zu spielen. Die Propaganda und der Informationsfluss des IS im Internet nutzt diese Bedürfnisse effektiv aus und bietet für viele Frauen eine verführerische Vision: ein scheinbar gerechtes und vollkommen strenges Gesellschaftssystem, in dem es klare Regeln, klare Identitäten und eine spirituelle Aufgabe gibt. Dieses utopische Ideal eines islamischen Kalifats verspricht sowohl politische Teilhabe in einem vermeintlich gerechten Staat als auch soziale Sicherheiten und einen hohen Status, insbesondere für Ehefrauen gefallener Kämpfer, die „Märtyrerwitwen“.
Für viele beginnt dies als romantisierte Vorstellung aus Erzählungen, Sozialen Medien und direktem Kontakt mit IS-Unterstützern. Der Prozess der Rekrutierung erfolgt zumeist über soziale Medien. Plattformen wie Twitter, Facebook, Telegram sowie verschlüsselte Messenger-Dienste ermöglichen den Kontakt zu militanten Kämpfern oder Unterstützern. Häufig werden Glaubensfragen thematisiert und eine religiöse Legitimation für den Ausstieg aus westlichen Gesellschaften und den Eintritt in den „wahren“ Islam geliefert. Innerhalb dieser Online-Communityen nutzen die Frauen spezielle Tarnnamen, sogenannte Kunyas, die sie mit historischen islamischen Figuren verbinden, um ihre neue Identität zu untermauern.
In den direkten Gesprächen zeigen viele Frauen eine faszinierende Mischung aus Religiosität und politischem Extremismus. Häufig wird die westliche Gesellschaft als korrupt, moralisch verfallen und feindlich gegenüber Muslimen dargestellt. Die einzige Lösung, an die geglaubt wird, ist die Abkehr von westlichen Werten und die Hingabe an die strikte Umsetzung des Scharia-Rechts, wie es vom IS interpretiert wird. Das dabei propagierte Islamverständnis ist extrem einseitig und lässt keinerlei Spielraum für religiöse Pluralität oder persönliche Auslegung zu. Die tatsächliche Erfahrung im von IS kontrollierten Gebiet ist jedoch eine andere als die erhoffte.
Viele Frauen berichten von einem Leben, das sich vor allem um die Rolle der Ehefrau und Mutter dreht, mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit und strenger Überwachung. Die sogenannt „islamischen“ Pflichten und Alltagserfordernisse dominieren den Alltag. Das Leben ist vor allem geprägt von politischer Indoktrination, Patrouillen der Religionspolizei (Hisba) und oft auch von emotionalen und physischen Härten innerhalb der Ehe. Die Illusion eines utopischen Gemeinwesens weicht hier nicht selten der Realität eines repressiven und gewalttätigen Umfelds. Der Status als Frau im IS-Kalifat wird oft mit materiellen Vorteilen und einem besonderen sozialen Rang verbunden, vor allem wenn der Ehemann als Märtyrer gestorben ist.
Die Witwen werden teilweise finanziell unterstützt und genießen ein gewisses Ansehen, das sie in sozialen Gruppen stärkt. Diese Aspekte werden von neuen Rekrutinnen immer wieder als attraktiv dargestellt. Allerdings gibt es auch Stimmen von Frauen, die von enttäuschenden oder schwierigen Eheverhältnissen erzählen, Konflikte und Versagenserfahrungen. Trotz der Härten bleiben viele von ihnen überzeugt von der „gerechten“ Sache und dem großen Ziel des Kalifats. Ehemalige Rekrutinnen wie Karen aus den USA zeigen dagegen, dass Wertediskussionen und Realitätserfahrungen zu Zweifeln und Abkehr führen können.
Karen etwa, die selbst vorhatte, sich einem IS-Kämpfer anzuschließen, kehrte nach Istanbul zurück, nachdem sie Zweifel an der Authentizität ihres Verlobten und der Gefahr durch rivalisierende Kämpfergruppen bekommen hatte. Ihre Geschichte verdeutlicht, dass nicht alle Frauen ihrem Weg bis zum bitteren Ende folgen und dass viele durch Umstände oder Vernunft zur Umkehr bewegt werden. Experten wie Dr. Katherine Brown vom King’s College London und Melanie Smith von der Institute for Strategic Dialogue betonen, dass junge Frauen, die sich dem IS anschließen, häufig nicht aus einem radikalisierten Kampfwillen handeln, sondern eher den Wunsch haben, Teil eines größeren Ganzen zu werden und ein „perfekter Mensch“ im Sinne einer totalitären Ideologie zu sein. Der Drang nach klaren Identitäten und absoluten Wahrheiten spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Die eigene unsichere Position im westlichen Kontext, geprägt durch multikulturelle Ambivalenzen und oftmals erlebte Ausgrenzung, wird zugunsten einer eindeutigen Gemeinschaft und einer unmissverständlichen Weltanschauung aufgegeben. Eine weitere Motivation ist die Ablehnung westlicher Gesellschaftssysteme, die als ungerecht, fremd und feindlich wahrgenommen werden. Die Ablehnung demokratischer Werte, die als „nicht-islamisch“ oder als von westlichen Mächten gesteuert gesehen werden, wird bei vielen Anhängerinnen des IS propagiert. In ihren Diskursen wird Demokratie als Gegensatz zum „göttlichen Gesetz“ verstanden, wodurch die eigene Ideologie in einem absoluten Wahrheitsanspruch verankert wird. Für viele Frauen bleibt die Thematik um Identität und Zugehörigkeit zentral.
Sie erleben sich weder als voll integriert in westliche Gesellschaften, noch als anerkannt in traditionellen muslimischen Milieus. Der IS bietet ihnen die Vorstellung von einer neuen Heimat und einer neuen muslimischen Gemeinschaft, die in ihrer radikalen Ausgestaltung allerdings kaum mit realen islamischen Lehren übereinstimmt. Die Aushöhlung der europäischen oder amerikanischen Identität ermöglicht ihnen zudem das Ausleben von Radikalität, die im Alltag zu Hause nicht möglich gewesen wäre. Das Leben als „Isis-Braut“ bedeutet jedoch nicht nur eine Flucht in eine angebliche spirituelle Vollkommenheit, sondern auch ein Leben voller Unsicherheiten und Gefahren. Die ständige Bedrohung durch Krieg, Kriminalität innerhalb der IS-Strukturen oder Verrat ist allgegenwärtig.
Der Weg zurück ist für viele aufgrund politischer und sicherheitsrelevanter Einschränkungen nahezu unmöglich. Gleichzeitig leiden nicht wenige der Frauen unter Gewalterfahrungen und Isolation, ohne dass sie offen darüber sprechen können. Die Destabilisierung westlicher Gesellschaften durch die Abwanderung von jungen Frauen zu Extremisten stellt zudem ein dauerhaftes sicherheitspolitisches Problem dar. Institutionen kämpfen mit der Radikalisierung in sozialen Netzwerken, der Prävention und der möglichen Reintegration der Rückkehrerinnen. Die gesellschaftliche Debatte über angemessene Maßnahmen ist kontrovers – zwischen Strafverfolgung, Hilfsangeboten und gesellschaftlicher Akzeptanz.
Insgesamt zeigt die Welt der Isis-Bräute einen vielschichtigen, oft widersprüchlichen Mikrokosmos von Sehnsucht, Ideologie und Leid. Hinter Versprechen eines perfekten islamischen Staates verbergen sich die komplexen Hintergründe von Identitätssuche, religiösem Extremismus und politischem Protest. Diese Geschichten sind Mahnung und Herausforderung zugleich, um Wege der Prävention, Aufklärung und sozialen Integration zu finden, damit sich der gefährliche Sog solcher radikalen Bewegungen nicht weiter ausbreitet und junge Menschen nicht weiter in Gewalt und Unterdrückung geführt werden.