Michel Siffre gehört zu den bedeutendsten Pionieren der Chronobiologie. Seine kühnen Untergrundexperimente der 1960er Jahre faszinierten Wissenschaftler und die Öffentlichkeit gleichermaßen, denn sie boten einen einzigartigen Einblick in die tiefgreifenden Auswirkungen von Zeitlosigkeit auf den menschlichen Geist und Körper. Am 16. Juli 1962 begann Siffre seine erste und wohl berühmteste Expedition in eine abgelegene Höhle im Alpenraum. Er verließ bewusst alle externen Zeitgeber, wie Uhren, Tageslicht und soziale Interaktionen, um zu erforschen, wie sein Körper und Geist mit völliger Isolation von der gewohnten zeitlichen Struktur umgeht.
Seinen Versuchungsdrang, alles Bestimmende aufzugeben, kann man nur als radikal bezeichnen. Nur ein einfaches Telefon trennte ihn von der Außenwelt, über das er nur sporadisch kurze Lebenszeichen absetzte, hauptsächlich, um den Flug seines eigenen Schlaf-Wach-Rhythmus zu dokumentieren. Das Höhlendasein war alles andere als bequem oder ungefährlich. Ein eisiger Gletscher in der engen Höhle sorgte für zermürbende Kälte und ständige Nässe, während immer wieder Steine von der Höhlendecke herabstürzten und Siffre mit der Zerbrechlichkeit seines Tuns konfrontierten. Doch weitaus intensiver waren die psychologischen Herausforderungen.
Ohne ein Zeitgefühl wuchs eine eigenartige Verzerrung der Zeitwahrnehmung. Stunden erschienen wie Sekunden, Tage wurden subjektiv auf wenige Wochen reduziert. Siffre zählte während der Telefonate bis über hundertzwanzig Sekunden, ein Vorgang, der eigentlich nur zwei Minuten dauern sollte – doch zur Überraschung aller benötigte er oft weit über fünf Minuten. Das faszinierende Ergebnis war, dass Siffre, obwohl er physisch zwei Monate unter Tage verbrachte, innerlich nur etwa fünfunddreißig Tage erlebte. Seine Expedition stellte die damaligen Annahmen über die menschliche innere Uhr radikal in Frage und öffnete das Fenster zu weiteren Forschungen auf diesem Gebiet.
Zum Zeitpunkt von Siffres Unternehmen befand sich die Forschung zur Chronobiologie noch in einem Frühstadium. Bereits im 18. Jahrhundert hatten Botaniker beobachtet, dass Pflanzen innere Rhythmen besitzen, die unabhängig von äußeren Lichtverhältnissen existieren. Doch für den Menschen war weitgehend unbekannt, ob eine solche innere Uhr existierte und wie sie sich unter extremen Bedingungen verhielt. Siffres bahnbrechende Untersuchungen konnten belegen, dass es einen eigenständigen, vom Bewusstsein unabhängigen biologischen Rhythmus beim Menschen gibt, der jedoch nicht exakt 24 Stunden beträgt, sondern sich eher in einem Bereich von 24 bis 25 Stunden bewegt.
Seine Experimente trugen nicht nur zur Grundlagenforschung bei, sondern erregten auch großes Interesse bei Organisationen wie der NASA und dem französischen Militär. Für NASA waren die Erkenntnisse essenziell, um die psychologischen Anforderungen bei langen Weltraummissionen, wie Reisen zum Mond oder Mars, einschätzen zu können. In der Schwerelosigkeit und Isolation des Weltraums entfallen natürliche Zeitgeber wie Sonnenaufgang oder Nacht, wobei Astronauten mit digitaler Zeitanzeige auf ihre innere Uhr angewiesen sind. Ebenso hatte das französische Militär Interesse daran, diese Forschung für ihre nuklear angetriebenen U-Boote zu nutzen, um dort längere Einsatzzeiten besser zu bewältigen. Die späteren Nachfolgeexperimente von Siffre übertrafen selbst seine abenteuerliche Originalstudie.
Unter anderem verbrachte Maurizio Montalbini in den 1980er Jahren 210 Tage in völliger Isolation in einer Höhle Italiens – und nahm subjektiv deutlich weniger Zeit wahr. Die amerikanische Forscherin Stefania Follini verbrachte sogar sechzehn Wochen alleine in New Mexico in einer künstlich abgedunkelten Kammer. Faszinierende Gemeinsamkeit aller dieser Versuche war, dass der Verlust von Tageslicht und sozialen Kontakten nicht nur zu dramatischen zeitlichen Verzerrungen führte, sondern auch tiefe psychische Belastungen hervorrief. Die Teilnehmer berichteten von Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, Halluzinationen, Depressionen und sogar zeitweisen Ausfällen des Sehvermögens. Ein tragischer Einzelfall in diesem Zusammenhang war die Forscherin Véronique Le Guen, die nach einem viermonatigen unterirdischen Aufenthalt Suizid beging.
Michel Siffre selbst kehrte zehn Jahre nach seinem ersten Höhlenaufenthalt zurück unter Tage, mit dem Ziel, das vermeintlich existentielle vierundvierzigstündige Schlaf-Wach-Muster, den so genannten 48-Stunden-Rhythmus, nachzuweisen. Die Dunkelheit und Einsamkeit in der texanischen Midnight Cave setzten ihm ebenso psychisch zu wie physisch. Er durchlebte eine schwere Krise, kämpfte mit Gedanken an Selbstaufgabe und vereinsamte in einem Ausmaß, das kein Mensch ohne größere Vorbereitung dauerhaft aushalten dürfte. Dennoch gelang es ihm während dieser Zeit phasenweise, den menschlichen Biorhythmus jenseits der gängigen 24-Stunden-Marke zu erforschen. Die genaue Mechanik dieses sogenannten ultradianen Rhythmen blieb auch für Siffre ein Mysterium, das er trotz aller Erschöpfung und Verzweiflung weiter ergründen wollte.
Diese Experimente zeigten deutlich, wie stark der menschliche Geist von äußeren Lebensgelegenheiten abhängig ist, wenn es um den Takt von Schlaf und Wachsein geht. Eine wichtige Schwäche an Siffres Studien war, dass die Probanden im Höhleninneren Kontrolle über künstliches Licht hatten. Die Beleuchtung selbst beeinflusste den Einschlafprozess, da heller Schein die innere Uhr zusätzlich verwirrte und den natürlichen Rhythmus zu verschieben begann. Diese Erkenntnis erklärte viele der späteren Inkonsistenzen in den Daten und brachte andere Forscher dazu, ihre Studien in streng kontrollierten Lichtverhältnissen durchzuführen. Tatsächlich wurde später festgestellt, dass der menschliche zirkadiane Rhythmus, wenn sämtliche externen Einflüsse minimiert sind, sehr genau dem 24-Stunden-Gesetz der Erdrotation folgt.
Siffres Ideen zu einem 48-Stunden-Rhythmus konnten somit nicht abschließend bestätigt werden – seine Erkenntnisse bleiben jedoch wertvoll für das Verständnis von Zeitwahrnehmung unter extremen Bedingungen. Nach seinen Höhlenexperimenten wandte sich Siffre einem ganz anderen Forschungsfeld zu. Seine Erlebnisse und Träume unter Tage führten ihn in die Zentralamerikanischen Regenwälder, wo er sich mit der Erforschung der antiken Mayakultur beschäftigte. Dieses Kapitel seines Lebens war geprägt von der Suche nach Geheimnissen der Vergangenheit, die ebenso fern und geheimnisvoll wie seine früheren Höhlenexkursionen waren. Die psychologische Belastung, die Isolation und Dunkelheit mit sich bringen, haben bis heute Bedeutung für viele Disziplinen.
Sie stellen eine Inspiration für die Erforschung von sensorischer Deprivation, psychischen Grenzerfahrungen und die Rehabilitation von Personen dar, die langen isolierten Aufenthalten etwa im Weltraum, unter Wasser oder bei Untergrundmissionen ausgesetzt sind. Die Untersuchungen von Michel Siffre waren also nicht nur ein waghalsiges Abenteuer, sondern der Grundstein für wichtige Einsichten über den menschlichen Organismus in Extremsituationen. Sie zeigen eindrucksvoll, dass es im Menschen einen inneren Kompass gibt, der versucht, den Rhythmus der Welt abzubilden, selbst wenn die Welt um ihn herum vollkommen in Dunkelheit und Stille verharrt. Zugleich machen sie klar, wie fragil die menschliche Wahrnehmung von Zeit ist und wie tiefgreifend Isolation und Dunkelheit die Psyche beeinflussen können. Heute sind die Thematiken aus Siffres Forschungen relevant für die Psychologie, Chronobiologie, Raumfahrtmedizin und Umweltforschung gleichermaßen.
Vor allem aber erinnern sie daran, dass die Verbindung zum natürlichen Tageslicht und zu anderen Menschen für unser Wohlbefinden unverzichtbar ist. Die bemerkenswerten Untergrundreisen von Michel Siffre bleiben deshalb ein beeindruckendes und zauberhaftes Beispiel dafür, wie Wissenschaft auf den Pfaden der Belastbarkeit unser Verständnis von Zeit und Leben erweitern kann – in den dunkelsten Tiefen der Erde und darüber hinaus.