Der boreale Wald ist die größte zusammenhängende terrestrische Vegetationszone der Erde und erstreckt sich über große Teile Nordamerikas, insbesondere Kanada und Alaska. Diese einzigartigen Wälder spielen eine entscheidende Rolle im globalen Ökosystem, indem sie etwa 30 % des weltweiten Waldkohlenstoffs speichern und somit eine wichtige Funktion im Klimaschutz wahrnehmen. Eine häufig gestellte, aber bislang uneinheitlich beantwortete Frage lautet: Wie viele Bäume beherbergt der boreale Wald Nordamerikas tatsächlich? Moderne Forschungen haben nun erstmals eine präzisere Schätzung ermöglicht, die nicht nur die Bedeutung dieser Wälder verdeutlicht, sondern auch Erkenntnisse über zukünftige Entwicklungen unter Klimawandelbedingungen gibt. Der boreale Wald zeichnet sich durch eine sehr hohe Varianz in der Baumdichte aus, die lokal stark schwankt. Frühere Studien, darunter die wegweisende Arbeit von Crowther et al.
(2015), schätzten die Baumanzahl für den nordamerikanischen borealen Wald auf etwa 211 Milliarden Bäume. Doch die Unsicherheit bezüglich der Genauigkeit dieser Zahl war erheblich, vor allem wegen mangelnder Repräsentativität der Daten und fehlender relevanter Variablen wie etwa Baumhöhen. Forscher rund um Kun Xu und Kollegen gehen einen Schritt weiter: Sie haben auf Basis von über 4300 Bodenproben im borealen Wald Nordamerikas und einer Kombination aus konventioneller Statistik und moderner Machine Learning-Technologie eine deutlich genauere Einschätzung erstellt. Ihre Ergebnisse zeigen, dass etwa 277 Milliarden Bäume in diesem Gebiet stehen. Diese Zahl liegt um mehr als 30 % höher als frühere Schätzungen und unterstreicht die enorme Bedeutung des borealen Waldes für globale ökologische Funktionen.
Ein wichtiger Faktor für die neue Schätzung ist die Berücksichtigung der Baumhöhe. Höhere Bäume stehen häufig in dichterem Bestand, da die Konkurrenz um Licht und Nährstoffe eine wichtige Rolle bei der Bestandesdynamik spielt. In den Modellen wurde sowohl die lineare als auch die quadratische Wirkung der Baumhöhe auf die Baumanzahl eingeführt, was ein realistischeres Bild von Wachstums- und Ausdünnungsprozessen ermöglicht. Auch weitere komplexe Umweltfaktoren wie Bodenbeschaffenheit, Klimavariablen, Vegetationsindizes und Stickstoffdeposition wurden einbezogen, was zu einer fundierteren Schätzung führte. Die Baumdichte im borealen Wald variiert stark – von etwa 110 bis zu über 4000 Bäumen pro Hektar, mit einem Durchschnitt von rund 991 Bäumen pro Hektar.
Trotz der Größe der Region ist die Baumdichte nicht gleichmäßig verteilt. Besonders in nördlichen und entfernt gelegenen Gebieten nimmt die Baumdichte ab, was sowohl natürliche Standortbedingungen als auch die Wirkung der für Gegenden mit harschen klimatischen Verhältnissen typischen Baumarten widerspiegelt. Zudem bestehen Unsicherheiten durch Datenlücken im hohen Norden aufgrund fehlender oder weniger genauer Bodenproben. Besonders bemerkenswert ist, dass die hochauflösenden Luftbild- und Satellitendaten zur Baumhöhenmessung essentielle Verbesserungen bei der Modellierung ermöglicht haben. Jedoch zeigen Untersuchungen, dass auch diese canopy height Daten aufgrund technischer und geografischer Herausforderungen gewisse Limitationen haben.
Die Integration von Boden- und Fernerkundungsdaten hat dennoch zu einem genaueren Bild geführt. Die Studienergebnisse haben darüber hinaus bedeutende Folgerungen für den Klimaschutz: Es wird prognostiziert, dass bis zum Jahr 2050 unter verschiedenen Klimaszenarien die Baumdichte im borealen Wald Nordamerikas um mindestens 11 % steigen wird. Dies ist auf ein wärmeres Klima zurückzuführen, das die Baumvermehrung und Wachstum in diesen ansonsten kühlen Regionen begünstigt. Allerdings werden manche Gebiete, beispielsweise der Süden Ontarios, einen Rückgang der Baumdichte erleben, wohingegen andere wie Labrador Zuwächse verzeichnen werden. Solche räumlichen Unterschiede zeigen die Komplexität ökologischer Reaktionen auf den Klimawandel und verdeutlichen die Notwendigkeit differenzierter Managementstrategien für den Erhalt und die Nutzung der Wälder.
Neben der ökologischen Bedeutung haben die Erkenntnisse auch sozioökonomische Relevanz. Die Zahl der Bäume pro Einwohner in der borealen Region Nordamerikas liegt bei beeindruckenden 85.000 (bezogen auf die Bevölkerung, die tatsächlich in der borealen Zone lebt). Nimmt man alle Einwohner der Jurisdiktionen, also inklusive städtischer Ballungsräume außerhalb des borealen Gebiets, reduziert sich dieser Wert auf etwa 7.700 Bäume pro Person.
Diese Zahlen verdeutlichen, wie groß der Ressourcen- und Lebensraumfaktor ist, den die borealen Wälder darstellen. Trotz ihrer enormen Baumanzahl ist der boreale Wald durch verschiedene Herausforderungen bedroht. Neben dem Klimawandel wirken sich auch intensive Forstwirtschaft, invasive Schädlinge, Krankheiten sowie Naturkatastrophen wie Waldbrände auf die Waldstruktur und Baumdichte aus. Obwohl die vorliegende Studie anthropogene und natürliche Störungen bei der Schätzung bewusst ausschloss, um die Vergleichbarkeit mit früheren Arbeiten zu gewährleisten, ist es wichtig, den Einfluss dieser Faktoren in der Zukunft stärker zu berücksichtigen. Ein weiterer Aspekt der Studie ist der Hinweis auf Datenlücken und Qualitätsprobleme.
Die Ungenauigkeiten bei den exakten Koordinaten von Inventurflächen, die in manchen Regionen bis zu 10 Kilometer betragen, sowie die geringere Verfügbarkeit von Felddaten in sehr abgelegenen oder nördlichen Gebieten mindern die Präzision der Schätzungen. Verbesserte Dateninfrastrukturen, neue Fernerkundungstechnologien und verstärkte Feldarbeit sind somit dringend notwendig, um zukünftige Studien weiter zu optimieren. Zudem werfen die Ergebnisse Fragen für die zukünftige Forstpolitik auf. Ein Beispiel ist das kanadische Programm zur Pflanzung von zwei Milliarden Bäumen bis 2030. Verglichen mit der Gesamtbaumzahl im borealen Wald in Kanada entsprechen diese zwei Milliarden Bäume nur etwa 0,83 % der existierenden Baumzahl in dieser Region.