TikTok hat sich in den letzten Jahren als eine der einflussreichsten Social-Media-Plattformen weltweit etabliert. Mit seinem innovativen Algorithmus und der fesselnden Kurzvideo-Form gab das Netzwerk Millionen von Nutzern die Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken und eine große Reichweite zu erzielen. Doch trotz des rasanten Erfolgs steht TikTok nun vor einer Herausforderung, die viele digitale Plattformen vor ihm erlebt haben: die sogenannte Enshittification. Dieser Begriff beschreibt den Prozess, bei dem eine Plattform vom anfänglichen Nutzer- und Kreatorenfreund zu einem System wird, das sich zunehmend an den Interessen der Geschäftsführung und monetären Profitmaximierung orientiert – zum Nachteil der Benutzer und Content-Schaffenden. Der Ursprung von TikToks Erfolg liegt vor allem in seinem Empfehlungssystem.
Anders als bei vielen anderen sozialen Netzwerken zeigt TikTok den Nutzern Inhalte, die aufgrund ihrer Interaktionshistorie und Vorlieben sorgfältig ausgewählt werden. Diese smarte, teils nahezu unheimliche Empfehlung verhalf der Plattform zu einem exponentiellen Wachstum und verschaffte ihr einen Wettbewerbsvorteil gegenüber etablierten Playern wie YouTube oder Instagram. Nutzer fanden sich in einer eigenen Welt wieder, in der sie immer wieder neue, spannende Videos entdecken konnten, ohne aktiv suchen zu müssen. Diese dynamische Nutzererfahrung war zentral dafür, dass TikTok eine riesige, engagierte Community aufbaute. Jedoch ist diese Benutzerzentrierung oftmals nur die erste Phase im Lebenszyklus digitaler Plattformen.
Wie Cory Doctorow eindrucksvoll beschreibt, folgt oftmals ein Wandel, der schrittweise die ursprünglichen Nutzer und Kreativen benachteiligt. Anfangs werden großzügige Werbe- und Monetarisierungsmechanismen eingesetzt, um Content Creator anzulocken und sie bei der Stange zu halten. TikTok war hier keine Ausnahme: Influencer und Medienunternehmen erhielten durch sogenannte „heating“-Tools eine künstlich erhöhte Sichtbarkeit, welche ihre Videos gezielt vielen Nutzern einspielte, um sie zum Verbleib und zur aktiven Beteiligung auf der Plattform zu motivieren. Der Zweck dieser Strategie ist offensichtlich. Durch das großzügige Zuteilen von Aufmerksamkeit soll eine Abhängigkeit geschaffen werden, bei der Creator ihre Bemühungen zunehmend auf TikTok fokussieren und ihre Ausspielmöglichkeiten auf anderen Plattformen vernachlässigen.
Doch wie das Prinzip der Enshittification vorhersagt, ist diese Phase nicht von Dauer. Sobald der Großteil der wichtigen Akteure im Ökosystem etabliert und an die Plattform gebunden ist, beginnt das Unternehmen, seine Strategie zu verändern. Die einst großzügig gewährte Aufmerksamkeit wird reduziert oder entzogen, während gleichzeitig neue monetäre Forderungen und Einschränkungen eingeführt werden. Für die Kreatoren bedeutet dies, dass ihre Reichweite nicht mehr von der Qualität oder Relevanz der Inhalte bestimmt wird, sondern von der Bereitschaft, den geschäftlichen Zwängen TikToks nachzukommen. Algorithmen werden angepasst, sodass Nutzer eher mit Videos konfrontiert werden, die TikTok selbst bevorzugt – seien es bezahlte Inhalte von Partnern oder vom Unternehmen geförderte Trends.
Dies führt zu einer Erosion der freien Entdeckungsmöglichkeiten und einer Verringerung echter Vielfalt im Feed. Auch die Nutzer selbst bleiben von diesem Wandel nicht unberührt. Was einst als organischer Fluss spannender und relevanter Inhalte begann, wandelt sich zunehmend in ein formalisiertes System kommerzieller Platzierungen und manipulierten Empfehlungsalgorithmen. Nutzer erleben eine wachsende Anzahl von Werbeanzeigen und bezahlten Promotionen, die oftmals inhaltsarmes oder minderwertiges Material überlagern. Das natürliche Nutzererlebnis wird durch diese Monetarisierung ausgehebelt, was die Attraktivität der Plattform langfristig beeinträchtigen kann.
Die Problematik der Enshittification ist keineswegs auf TikTok beschränkt. Vergleichbare Entwicklungslinien ließen sich bei anderen Giganten wie Facebook, Amazon oder Google beobachten. Jede dieser Plattformen machte in ihren Anfangsphasen Nutzer und Anbieter glücklich, um sich anschließend immer stärker auf Profitmaximierung zu konzentrieren. Im Ergebnis verfremden sich die Angebote, die Vielfalt schwindet, und der Markt wird von wenigen kontrollierenden Akteuren geprägt. Besonders gefährlich wird dieses Phänomen in einem sogenannten Zweitseitigen Markt, wie ihn Social-Media-Plattformen repräsentieren.
Hier stehen sich Nutzer und Anbieter in einer gegenseitigen Abhängigkeit gegenüber, wobei die Plattform als Vermittler agiert und Märkte teilweise monopolisiert. Diese Machtposition ermöglicht es ihr, die Verteilung von Aufmerksamkeit und Wert frei zu steuern – und genau das führt oft zu den beschriebenen negativeren Entwicklungen. TikTok steht nach wie vor an einem Wendepunkt. Die Entscheidung, ob die Plattform den Weg der Enshittification weitergeht und sich primär als geldgetriebene Vermittlerin zwischen Nutzern und Geschäftspartnern positioniert, oder ob sie versucht, nachhaltige Nutzer- und Kreatorenzentrierung zu bewahren, wird maßgeblich zukünftige Marktposition bestimmen. Allerdings scheint der Trend schwer aufzuhalten, besonders da wirtschaftlicher Druck, Investoreninteressen und Wettbewerb das Verhalten der Geschäftsführung stark prägen.
Die Kritik an der „Heating“-Funktion bei TikTok ist ein konkretes Beispiel für diesen Konflikt. Indem bestimmte Videos manuell bevorzugt werden, entsteht eine verzerrte Wahrnehmung innerhalb der Community, die glauben soll, der Algorithmus sei neutral und fair. Tatsächlich aber erzeugt dieses Instrument ein künstliches Spielfeld, das systematisch ungleiche Chancen verleiht und die Glaubwürdigkeit gefährdet. Diese Praxis erinnert an das Rigged-Game-Modell, bei dem die Regeln hinter verschlossenen Türen manipuliert werden und die Teilnehmer auf eine Illusion vertrauen, die langfristig enttäuscht. Für Kreative birgt dies erhebliche Risiken.
Sie investieren Zeit und Ressourcen in Inhalte, nur um später mit sinkender Sichtbarkeit konfrontiert zu werden, wenn TikTok ihre Videos nicht mehr „heizt“. Dadurch werden Einkommensquellen verengt und Abhängigkeiten vertieft. Gleichzeitig verlieren Nutzer authentische, vielfältige Inhalte zugunsten weniger wirtschaftlich lukrativer Optionen des Unternehmens. Neben diesen Mechanismen ist die starke Plattformabhängigkeit ein weiteres Problem. Sobald ein Großteil der Community und Kreativen auf TikTok fokussiert ist, fällt ein Wechsel zu alternativen Plattformen schwer.
Diese Lock-in-Effekte erinnern an Marktmachtmonopole, die Wettbewerb und Nutzerwahl einschränken. Für den Nutzer geht damit oftmals einher, dass persönliche Daten umfangreicher als je zuvor gesammelt und zur weiteren Zielgruppensegmentierung genutzt werden, was aus Datenschutzsicht kritisch ist. Die digitale Kommunikation wandelt sich mit diesen Entwicklungen nachhaltig. Plattformen wie TikTok prägen zunehmend nicht nur die Unterhaltung, sondern beeinflussen auch Medienwirtschaft, Kreativindustrien und sogar politische Diskurse. Die Enshittification verkompliziert das Ökosystem durch eine Verschiebung von Nutzererwartungen hin zu wirtschaftlicher Instrumentalisierung, wodurch Vertrauen in die Plattformen schwindet.
Aus politischer und gesellschaftlicher Sicht stellt sich daher die Frage, wie dieser Prozess reguliert oder gebremst werden kann. Experten sprechen sich für stärkere Interoperabilität zwischen Plattformen aus, damit ein freier Wechsel möglich wird und Nutzer ihre Communities mitnehmen können. Gleichzeitig wird der Ruf nach mehr Transparenz bei Algorithmusentscheidungen und einer faireren Verteilung von Einnahmen laut. Nur so lassen sich die Machtmissbräuche und Verzerrungen wirkungsvoll eindämmen. Aus Nutzersicht empfiehlt es sich, sich der Mechanismen hinter den Kulissen bewusst zu sein.
Kritisches Hinterfragen von trendigen Inhalten und ein bewusster Umgang mit den Plattformen können helfen, den eigenen Einfluss als Community-Mitglied und Kreativer wieder zu stärken. Alternative soziale Netzwerke gewinnen zunehmend an Bedeutung, gerade wenn sie Offenheit, Dezentralisierung und Nutzerrechte in den Fokus stellen. Die Geschichte zeigt, dass keine Plattform für immer an der Spitze bleiben kann. Der Wandel hin zur Enshittification erscheint oft als unaufhaltsam, doch die Chancen für neue Ideen, neue Geschäftsmodelle und technologischen Wandel bleiben bestehen. Gerade in einer Zeit, in der Regulierung zunehmend diskutiert wird, könnte eine Renaissance des Pluralismus und der Nutzerzentrierung eine Antwort sein.
Die Herausforderung besteht darin, den Übergang fair und sozialverträglich zu gestalten, um die digitale Kommunikationswelt für alle Beteiligten lebendig und attraktiv zu halten. TikTok steht symbolisch für die Ambivalenz moderner Plattformökonomie: zwischen Faszination und Frustration, zwischen Kreativität und Kontrolle. Ein bewusster Umgang mit den Dynamiken der Enshittification ist damit essentiell, um in Zukunft wieder mehr Nutzer- und Kreatorenzentriertheit in den Vordergrund zu rücken und die soziale Komponente digitaler Medien zu erhalten. Nur so können die Potenziale innovativer Systeme wirklich nachhaltig ausgeschöpft werden.