Die Entschlüsselung antiker Schriften fasziniert Historiker, Archäologen und Sprachwissenschaftler seit Jahrhunderten. Der hohe kulturelle Wert sowie das Verständnis vergangener Zivilisationen hängen oft davon ab, verlorene oder verschlüsselte Texte zu lesen. Mit dem Aufkommen künstlicher Intelligenz (KI) schien eine Revolution bevorzustehen: könne es nicht möglich sein, durch leistungsfähige Algorithmen längst verstaubte Geheimnisse zu lüften? Die Realität ist jedoch komplexer – während KI bereits erhebliche Fortschritte bei bekannten Sprachen gemacht hat, zeigen die ungelösten Schriftsysteme Grenzen auf, die menschliche Intuition und interdisziplinäre Zusammenarbeit unverzichtbar machen. Auf dem Weg zu einer umfassenden Entzifferung wirkt KI als Werkzeug, nicht als Allheilmittel. Solche Herausforderungen werden besonders deutlich anhand von Projekten wie Ithaca, einem auf Transformer-Technologie basierenden KI-Modell, das bei der Rekonstruktion beschädigter griechischer Inschriften beachtliche Erfolge erzielte.
Entworfen von einem Team um die Historikerin Thea Sommerschield und den KI-Forscher Yannis Assael, überraschte Ithaca die Fachwelt mit ihrer Fähigkeit, fehlende Passagen antiker Texte mit bemerkenswerter Genauigkeit zu ergänzen. Besonders beeindruckend war die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine: Die Kombination aus fachlicher Expertise und algorithmischer Präzision führte zu deutlich besseren Ergebnissen als jede Partei für sich allein. Dennoch bleibt dieser Erfolg begrenzt auf bekannte Sprachen wie das Altgriechische, dessen umfangreicher Schriftkorpus und sprachwissenschaftliche Kenntnis der Historiker eine solide Grundlage bieten. Bei unbekannten und seltenen Schriftsystemen wie der Linear A-Schrift, die auf Bronzezeit-Kreta verwendet wurde, oder dem Rongorongo-Code der Osterinsel ist die Ausgangslage deutlich schwieriger. Es fehlen oft entscheidende Schlüssel, wie ein mehrsprachiges Dokument, das als Rosetta-Stein dienen könnte, sowie eine ausreichende Anzahl zusammenhängender Texte, um Muster und Sprachstrukturen klar zu erkennen.
Die verschiedenen unbekannten Schriftsysteme weisen besondere Herausforderungen auf. So besteht zum Beispiel die Linear A-Schrift aus wenigen hundert Inschriften, die meist kurz und in unterschiedlichen Kontexten verfasst sind. Ähnliches gilt für die Cypro-Minoan-Schrift auf Zypern, die über 200 fragliche Zeichen und eine kleine Menge an Textdokumenten umfasst. Manche dieser Systeme könnten sogar mehrere verschiedene Sprachen abbilden. Die Resultate sind so ungewiss, dass selbst modernste KI-Algorithmen allein nicht in der Lage sind, verlässlich Entzifferungen vorzuschlagen.
Ein weiterer besonders komplexer Fall ist das Harappan-Schriftsystem der Indus-Tal-Zivilisation, die vor etwa 4.000 Jahren existierte. Trotz tausender entdeckter Inschriften ist die Sprache hinter den Zeichen bis heute unbekannt. Die damalige Gesellschaft hinterließ keine überlieferten Übersetzungen oder parallele Schriften, die das moderne Verständnis vereinfachen könnten. Aufgrund dieses Mangels an Vergleichsmaterial sind herkömmliche KI-Methoden, die auf großen Datenmengen basieren, hier wirkungslos.
Interessant ist, dass auch die Definition dessen, was überhaupt als Schriftsystem gilt, unter Wissenschaftlern variieren kann. So sind die sogenannten Quipus der Inka beispielsweise keine klassische Schrift, sondern komplexe Knotensysteme, die Informationen kodieren. Die Herausforderung, eine nicht-graphische Codierung zu verstehen, erschwert ebenfalls die Arbeit von KI-Modellen, die typischerweise auf visuellen oder linguistischen Mustern aufgebaut sind. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Bedeutung menschlicher Kreativität, Intuition und interdisziplinärer Zusammenarbeit. Historische Beispiele wie die Entzifferung der Linear B-Schrift oder der Maya-Hieroglyphen zeigen, dass fundamentale Durchbrüche oft erst durch vernetztes Denken über Fachgrenzen hinweg entstehen.
Michael Ventris’ innovative Herangehensweise an Linear B basierte auf dem Bruch mit etablierten Annahmen und der kreativen Anwendung linguistischer Analyse. Yuri Knorozov zog bei den Maya-Schriftzeichen Verbindungen zu lebendigen Sprachen der heutigen Menschen in Mittelamerika, was eine neue Perspektive eröffnete. Während moderne neuronale Netzwerke bereits große Fortschritte bei der Erkennung und Vervollständigung von Mustern erzielt haben, liegt ihre Schwäche gerade in der fehlenden Fähigkeit zum abstrakten Denken und zur validen Interpretation kultureller und historischer Kontexte. Die Datenlage bei vielen unbekannten Schriftsystemen ist nicht nur relativ klein, sie weist zudem eine hohe Fragmentierung und Unsicherheit auf. So ist es etwa problematisch, die genaue Verteilung der Zeichen oder gar den genauen Lautwert zu bestimmen, wenn eine Reihe von Artefakten beschädigt, falsch datiert oder aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen wurde.
Ein vielversprechender Ansatz ist die Kombination von KI mit archäologischen Methoden. Das klassische Beispiel dafür ist das Vesuvius Challenge-Projekt, das mithilfe von 3D-Scannern und maschinellem Lernen erstmals seit fast 2.000 Jahren unlesbare Schriftrollen aus Herculaneum entzifferte. Das technische Equipment erlaubte, die äußerst sensible carbonisierte Papyrusrolle digital zu öffnen, ohne sie physisch zu zerstören. Hier konnte die KI im Zusammenspiel mit Experten neue Inhalte zu spätantiken Philosophen entschlüsseln.
Die Forschung zeigt, dass es nicht allein auf die Leistungsfähigkeit der Algorithmen ankommt, sondern vor allem darauf, welche Daten eingespeist, wie sie interpretiert und welche Fragestellungen formuliert werden. Ein Beispiel dafür ist das Projekt des Sign2Vecd-Neural-Netzwerks zur Erforschung der Cypro-Minoan-Schrift. Wissenschaftler ließen die KI eigenständig Muster und Gruppierungen zwischen den Zeichen erkennen, ohne dass ihnen vorher bestimmte Eigenschaften aufgedrängt wurden. Das Resultat war eine Kartierung der Zeichen in einem dreidimensionalen Raum, die half, Gruppen von Varianten zu identifizieren. Dennoch betonen die Forscher, dass das Modell nur dann Mehrwert erzeugt, wenn es von Mensch und Fachwissen gelenkt wird.
Die Entdeckung, dass schriftliche Kommunikation nicht eine einmalige, exklusiv mesopotamische Erfindung war, sondern mehrfach unabhängig entwickelte Systeme entstand, erweitert den Blick auf die Geschichte der Schrift. Neben Mesopotamien entstanden ähnliche Entwicklungen in China, Ägypten, Zentralamerika und womöglich im Industal. Die vielfältigen Funktionen von Schrift – Buchhaltung, religiöse Aufzeichnungen, Unterhaltung und soziales Spiel – unterstreichen ihre Vielseitigkeit, die KI ebenfalls zu erfassen versucht. Der Fall des Rongorongo-Codes der Osterinsel fasziniert Forscher weltweit. Einige tausend Symbole auf Holztafeln aus dem Süd-Pazifik sind der Schlüssel zur Gesellschaft einer nah am Aussterben stehenden Kultur.
Die Besonderheit liegt darin, dass die Sprache der heutigen Inselbewohner als naher Verwandter der aufgezeichneten Sprache gilt. Trotz dieser Vorinformationen gelingt bislang niemandem eine vollständige Deutung, was verdeutlicht, dass auch mit KI die Deutung eines so komplexen und stark fragmentierten Systems eine immense Herausforderung bleibt. Zusammengefasst ist die Rolle der KI in der Entzifferung antiker Schriften ambivalent. Sie kann dort unterstützen, wo Daten reichlich und gut strukturiert sind, indem sie fehlende Wörter ergänzt oder ähnliche Signale erkennt. Bei hochkomplexen, wenig erforschten und fragilen Schriftsystemen sind menschlicher Scharfsinn und fachübergreifende Zusammenarbeit unverzichtbar.
Der Mensch liefert die Kontextualisierung, die kulturelle Deutung und die Fähigkeit zum kreativen Denken, während die Maschine die immense Rechenleistung für Mustererkennung und Datenverarbeitung bereitstellt. Zukünftige Fortschritte setzen voraus, dass sowohl die digitale als auch die traditionelle Archäologie verstärkt zusammenarbeiten. Das Auffinden neuer Fundstücke, die sorgfältige Dokumentation und Digitalisierung bilden weiterhin die Basis für jede ernsthafte Entzifferungsarbeit – ohne sie läuft keine KI der Welt zu Höchstleistungen auf. Gleichzeitig eröffnen Innovationen wie unsupervised learning und neuronale Netze, die wenig vorheriges Wissen benötigen, neue Möglichkeiten bei der Musteranalyse. Die Verheißung ist eine langfristige, symbiotische Beziehung von Mensch und Maschine im Dienste des Verständnisses unserer Vergangenheit.
Die faszinierenden, unentzifferten Codes bleiben Herausforderungen und Ansporn zugleich. Dabei wird deutlich, dass die größte Errungenschaft der modernen KI in der Archäologie nicht ihr autonomes Entziffern ist, sondern ihre Funktion als mächtiger Assistent, der die menschliche Intuition ergänzt und erst ermöglicht, jahrtausendealte Rätsel Schritt für Schritt zu ergründen.