Elisabeth Förster-Nietzsche gilt bis heute als eine umstrittene Figur in der Rezeptionsgeschichte von Friedrich Nietzsches Werk. Oftmals wird sie pauschal als diejenige dargestellt, die Nietzsches Philosophie für nationalsozialistische und faschistische Zwecke verfälscht und missbraucht hat. Diese weit verbreitete Erzählung suggeriert, dass ohne ihre Eingriffe das Werk Nietzsches von antisemitischem und eugenischem Gedankengut befreit wäre. Doch eine genauere Betrachtung der historischen Fakten und der existierenden Originaltexte zeigt ein differenzierteres Bild, das sowohl Elisabeths Rolle als auch Nietzsches eigene Gedankenwelt in ein neues Licht rückt. Friedrich Nietzsche, der bedeutende Philosoph des späten 19.
Jahrhunderts, beschäftigte sich zeitlebens mit Themen wie Kulturkritik, Moral, dem Wesen der Macht und der Bedeutung von Kunst. Sein Werk war geprägt von komplexen Reflexionen über die menschliche Natur und die Entwicklung der Gesellschaft. Obwohl Nietzsche selbst niemals direkt politisch aktiv war, boten manche seiner Ideen einen Nährboden für spätere politische Ideologien – besonders für Teile der faschistischen Bewegung und den Nationalsozialismus. Der Mythos, Elisabeth Förster-Nietzsche habe ihr Bruderwerk gezielt umgedeutet oder manipuliert, um es mit ihrer faschistischen Gesinnung in Einklang zu bringen, ist attraktiv, aber in seiner pauschalen Form nicht haltbar. Historische Untersuchungen belegen, dass Elisabeth zwar in der Tat Änderungen und Umformulierungen an den Nachlassdokumenten vorgenommen hat.
Diese Eingriffe waren jedoch keineswegs einseitig darauf ausgelegt, Nietzsche eindeutig als Antisemiten oder Verfechter nationalistische Ideale zu verkaufen. Interessanterweise hat sie in manchen Fällen sogar Passagen weggelassen, die eine deutliche Verbindung zum damaligen Rassismus oder Eugenik-Forderungen schärfer betonten. Elisabeth Förster-Nietzsche war selbst politisch engagiert und sympathisierte mit völkisch-nationalistischen Bewegungen. Sie war Mitbegründerin einer sogenannten Ariergemeinschaft in Paraguay, einem kolonialen Projekt, das rassistische Prinzipien verfolgte. Mit diesen persönlichen Verbindungen ist zweifellos ein ideologischer Hintergrund für ihre Bearbeitungen nachvollziehbar.
Dennoch zeigen einige Beispiele ihrer Edition, dass sie auch versucht hat, Nietzsches Ablehnung des Antisemitismus zu unterstreichen – etwa durch das Einfügen eines Briefes ihres Bruders, in dem dieser sich öffentlich und vehement von antisemitischen Bewegungen distanziert, obgleich die Echtheit dieses Dokuments nicht komplett gesichert ist. Wesentliche Bände von Nietzsches veröffentlichten Werken, die während seines Lebens erschienen sind, enthalten bereits Elemente, die in späteren faschistischen und eugenischen Ideologien wiederzufinden sind. So finden sich in „Also sprach Zarathustra“ oder „Jenseits von Gut und Böse“ Passagen, die eine Überlegenheit gewisser Menschenrassen oder -typen propagieren, Sehnsüchte nach einer "Reinigung" der Kultur und Gesellschaft anstimmen oder eine aristokratische Ordnung befürworten, in der eine herrschende Elite über eine dienende Unterschicht herrscht. Diese Gedanken waren keineswegs Erfindungen Elisabeths, sondern reflektierten Nietzsches eigene Überlegungen zu Kultur, Macht und Gesellschaft. Dabei war er stark beeinflusst von den zeitgenössischen wissenschaftlichen Strömungen, darunter der Darwinismus und die sich etablierende Eugenik als pseudowissenschaftliche Disziplin.
Nietzsche sah Gesellschaften als lebendige Organismen, in denen „Stärkere“ herrschen sollten, um Fortschritt und Höherentwicklung zu ermöglichen, während „Schwächere“ als Hemmnis galten. Diese Vorstellung einer strengen Kasten- oder Klassenordnung basiert auch auf einer Verherrlichung von Hierarchie, die er gerade in den Aufklärungsidealen der Gleichheit kritisierte. Was die Assoziation Nietzsches mit dem Nationalsozialismus besonders kompliziert macht, ist die Tatsache, dass viele der späteren Nazi-Ideologen in seiner Philosophie Inspiration fanden. Namen wie Alfred Ploetz, der den Begriff der „Rassenhygiene“ prägte, oder Joseph Goebbels, der Nietzsche zitierte, zeigen, dass die NS-Ideologie zumindest zum Teil vertraut war mit Nietzsches Schriften. Allerdings übernahmen sie nur ausgesuchte Teile und interpretierten sie oft in eine Richtung, die Nietzsche selbst so nie explizit gefordert hatte.
In der wissenschaftlichen Nachhut verdient das Werk der Philologen Giorgio Colli und Mazzino Montinari besondere Beachtung, da sie im 20. Jahrhundert eine kritisch-edierte Gesamtausgabe von Nietzsches Schriften vorgelegt haben, die auf den unveränderten Originalmanuskripten beruht. Diese Edition stellt ein Gegengewicht zu den zuvor verbreiteten Arbeiten unter Elisabeths Kontrolle dar und erlaubt heute eine objektivere Sicht auf Nietzsches Denken. Zusätzlich gibt es Anhaltspunkte, die darauf hinweisen, dass einige populäre Titel, wie beispielweise „Der Wille zur Macht“, gar keine beabsichtigte Buchveröffentlichung Nietzsches darstellten. Vielmehr hat Elisabeth mit Hilfe von Freunden manche lose Manuskriptfragmente zu zusammenhängenden Werken zusammengestellt, was wiederum als eine Form der Interpretation oder der Verfälschung gewertet werden kann.
Allerdings deutet vieles darauf hin, dass Nietzsche seine Ideen zu Macht und Kultur durchaus entwickelt und vielfältig formuliert hatte, sodass der „Wille zur Macht“ eine zentrale Konzeption in seiner Philosophie bleibt. Die These, dass Elisabeth Förster-Nietzsche als alleinige Schuldige für die Vereinnahmung ihres Bruders durch faschistische Bewegungen verantwortlich gemacht werden könne, lässt sich folglich nicht halten. Nietzsche selbst formulierte in seinem Leben mehrfach Gedanken und Vorstellungen, die fraglos eine problematische Nähe zu rassistischen und elitistischen Ideen aufweisen. Schon zu seinen Lebzeiten wurde Nietzsche von antisemitischen und eugenischen Kreisen rezipiert und instrumentalisiert, bevor seine Schwester damit in Verbindung gebracht wurde. Was oft übersehen wird, ist die literarische Finesse und theatralische Sprache, mit der Nietzsche seine provokanten und oft widersprüchlichen Sichten formulierte.
Gerade diese ästhetische Qualität machte seine Werke so einflussreich und attraktiv für viele Leser, auch für solche mit politisch extremen Überzeugungen. Seine Philosophie ist dabei keine simple ideologische Blaupause, sondern voller Spannungen und Ambivalenzen. Heute ist es unerlässlich, sich nicht auf bequeme Vereinfachungen zu verlassen, wie beispielsweise die „Elisabeth-Verschwörung“, die Nietzsche reinwaschen oder ihm die Mitverantwortung an fatalen politischen Entwicklungen vollständig zuschreiben möchten. Vielmehr bedarf es einer nuancierten und kenntnisreichen Auseinandersetzung, die sowohl die geschichtlichen Kontexte als auch die vielfältigen Motivationen aller Beteiligten berücksichtigt. Elisabeth Förster-Nietzsche bleibt eine umstrittene Figur in der Geistesgeschichte, doch sie allein kann weder als Verfälscherin noch als wahre Vermittlerin von Nietzsches Philosophie gelten.
Vielmehr zeigt sich, dass Nietzsches Denken mit allen seinen Widersprüchen und Herausforderungen sorgfältig reflektiert werden muss, gerade um den Menschen und Denken hinter dem Mythos zu verstehen. Eine unkritische Glorifizierung oder pauschale Verteufelung nutzt weder der historischen Wahrheit noch der philosophischen Debatte. In einem Zeitalter, für das differenzierte und fundierte Perspektiven wichtiger sind denn je, stellt die korrekte Einordnung von Friedrich Nietzsche und Elisabeth Förster-Nietzsche eine Aufgabe dar, die tief in die Kernfragen von Ethik, Politik und Kultur reicht. Nur durch ehrliche und kritische Auseinandersetzung lässt sich dem Erbe Nietzsches gerecht werden – einem Werk, das auch heute noch inspiriert, herausfordert und provoziert.