In den letzten Jahren hat die rasante Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, insbesondere generativer KI wie ChatGPT, das Bildungssystem vor neue Herausforderungen gestellt. Während viele diese Technologien als bahnbrechende Hilfsmittel für Schüler und Studenten feiern, zeichnet sich zunehmend ein problematisches Bild ab, das weit über das bekannte Problem des Betrugs hinausgeht. Die wahre Gefahr liegt nicht in der Hilfe zur Täuschung, sondern in der schleichenden Erosion des Lernprozesses selbst. Bereits vor einiger Zeit haben Studien gezeigt, dass ein Großteil der Schüler und Studierenden in den USA diese neuen Werkzeuge intensiv nutzt. Umfragen aus vergangenen Jahren belegten, dass nahezu 90 Prozent der College-Studenten und mehr als die Hälfte der High-School-Schüler regelmäßig Chatbots einsetzen, um schulische Aufgaben zu erledigen.
Die Verbreitung ist schneller als jemals zuvor ein neues Bildungswerkzeug, vergleichbar nur mit der Einführung des Bleistifts vor vielen Jahrzehnten. Anfängliche Ängste konzentrierten sich hauptsächlich auf die Möglichkeit des Schummelns – das schnelle und unkomplizierte Generieren von Essays, Hausarbeiten oder anderem schriftlichen Output, der den Eindruck von ernsthaftem Lernen erweckt, ohne den mühsamen Prozess des Lernens zu durchlaufen. Doch die wirkliche Bedrohung durch die Automatisierung des Lernens ist eine andere: Sie untergräbt die grundlegenden Mechanismen, durch die Wissen erworben und Fähigkeiten entwickelt werden. Generative KI ist in ihrem Wesen eine Automatisierungstechnologie. Sie nimmt Aufgaben ab, die zuvor von Menschen erledigt wurden, und ersetzt menschliche Arbeit durch maschinelle Prozesse.
Dies ist ein vertrautes Muster, das wir aus vielen Bereichen kennen, etwa in der Industrie oder der Verwaltung. Forschung im Bereich der Human-Factors zeigt, dass die Nutzung von Automatisierungstechnologien drei unterschiedliche Effekte auf die Fähigkeiten der Menschen haben kann. Entweder wächst die Kompetenz durch die Unterstützung, sie nimmt ab, weil wichtige Tätigkeiten wegfallen, oder sie entwickelt sich gar nicht erst, wenn keine direkte Erfahrung möglich ist. Entscheidend ist dabei der Wissensstand und die Meisterschaft, die eine Person bereits in einem Bereich besitzt. Experten können Automatisierung als Werkzeug nutzen, um Routineaufgaben abzugeben und sich auf komplexere Herausforderungen zu konzentrieren.
Anders verhält es sich jedoch, wenn grundlegende Fertigkeiten nicht aktiv geübt werden und so nach und nach verkümmern oder gar nicht erst entstehen. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist die Luftfahrt, wo erfahrene Piloten zunehmend auf Autopiloten vertrauen. Das Resultat ist der sogenannte "Skill Fade" – der Verlust wichtiger manueller Fertigkeiten, der zu einer verringerten Reaktionsfähigkeit und situativen Unachtsamkeit führt. Was in der Luftfahrt lebensbedrohlich sein kann, hat auch in der Bildung gravierende Folgen. Wird das Lernen selbst automatisiert, entzieht man den Lernenden die Möglichkeit, sich durch eigenes Erfahren und Üben zu entwickeln.
Besonders kritisch zeigt sich das im Bereich der schulischen und universitären Bildung. Lernen ist keine Fähigkeit, die man einmal meistert und dann beherrscht, sondern ein fortlaufender Prozess, der ständiges Arbeiten und Nachdenken erfordert. Dabei geht es keineswegs nur um das Endprodukt wie etwa die fertige Seminararbeit oder das abgegebene Referat, sondern um die gesamte Arbeit, die hinter dieser Leistung steckt. Das kritische Lesen von Quellen, das Zusammenführen verschiedener Ideen, das Erarbeiten einer eigenen These und deren argumentative Ausarbeitung sind die eigentlichen Lerninhalte, die durch automatisierte Text-Generatoren umgangen werden können. Das Ergebnis ist ein Paradox: Schüler und Studenten liefern vielleicht bessere schriftliche Ergebnisse ab, die jedoch keine verlässlichen Belege für tatsächliches Verständnis oder geistige Auseinandersetzung darstellen.
Statt selbst zu lesen, zu verstehen und zu formulieren, lassen sie die KI die Arbeit erledigen. Die schriftlichen Arbeiten, die einst als Prüfsteine des Lernfortschritts dienten, verwandeln sich zunehmend in reine Showprodukte ohne tiefere Substanz. Diese Entwicklung ist nicht nur theoretisch bedenklich, sie zeigt sich bereits in empirischen Studien. Eine Untersuchung der University of Pennsylvania hat offenbart, dass Schüler mit Zugriff auf GPT-4 zwar bessere Noten erzielten, jedoch im Moment des Wegfalls dieser Hilfe schlechter abschnitten als jene ohne jeglichen KI-Zugang. Das bedeutet, dass sich die Abhängigkeit von KI negativ auf die langfristige Fähigkeit zum eigenständigen Lernen auswirkt – aus einem durchschnittlichen Lernenden wird durch die Unterstützung ein scheinbar besserer, wenn er aber ohne diese Hilfe agieren muss, verschlechtert sich seine Leistung erheblich.
Die Ironie der Situation besteht darin, dass gerade diejenigen, die AI am effektivsten nutzen könnten, um ihre Kompetenzen zu erweitern, durch die Abhängigkeit daran gehindert werden, ein tiefes Verständnis zu entwickeln. Die Arbeit mit KI erfordert nämlich ein gewisses Niveau an Vorwissen, um sinnvolle und präzise Eingaben – sogenannte Prompts – formulieren zu können. Dieses nötige Wissen bleibt jedoch aus, wenn Lernende nur noch an der Oberfläche kratzen und sich auf die KI verlassen. Hinzu kommt die psychologische Dimension: Viele Schüler und Studenten berichten von einem Gefühl der Trägheit und Motivationslosigkeit, das durch die Nutzung von KI-Tools ausgelöst wird. Sie wissen, dass sie weniger lernen, fühlen sich aber gezwungen, die Hilfsmittel zu verwenden, um im Wettbewerb mitzuhalten.
Das Lernen wird immer mehr als lästige Aufgabe empfunden, die vermieden oder abgekürzt werden soll. Die Freude am eigenen Entdecken, am Ringen mit neuen Ideen, an Selbstwirksamkeit schwindet. Es liegt auf der Hand, dass diese Entwicklung weitreichende Konsequenzen für das Bildungssystem und die Gesellschaft hat. Wenn das „Arbeiten an sich“ substituiert wird, droht ein Verlust von kritischer Denkfähigkeit, Kreativität und Selbstständigkeit – Eigenschaften, die heute mehr denn je gefragt sind. Die Gefahr bestehe darin, dass die nächste Generation nicht mehr in der Lage sein wird, komplexe Probleme ohne maschinelle Hilfe zu lösen oder tiefgründige Erkenntnisse zu gewinnen.
Doch es gibt Wege, den negativen Effekten der KI entgegenzuwirken. Pädagogische Konzepte müssen neu gedacht und angepasst werden. Die Förderung des eigenen Denkprozesses und der kritischen Auseinandersetzung mit Materialien darf nicht unterlaufen, sondern muss im Mittelpunkt bleiben. KI könnte als Werkzeug dienen, das individuell unterstützt, reflektiertes Arbeiten erleichtert und neue Lernwege öffnet – nur darf es nicht die Arbeit und Erfahrung selbst ersetzen. Auch sind Lehrpläne und Prüfungsformate zu überdenken.
Statt traditioneller schriftlicher Arbeit könnten alternative Formen der Leistungsmessung entwickelt werden, die den Prozess des Lernens stärker betonen und die Gefahren der Automatisierung minimieren. Zudem müssen Lehrkräfte darauf vorbereitet werden, die Rolle von KI im Bildungsalltag zu verstehen und verantwortungsvoll damit umzugehen. Der gesellschaftliche Diskurs sollte sich weniger auf das Detektieren von Betrug konzentrieren und vielmehr auf die Qualität des Lernens selbst. Die Frage, wie KI eingesetzt wird, um Lernen zu fördern, anstatt es zu ersetzen, ist zentral. Bildung braucht keine Illusion von Leistung durch Maschinen, sondern echte Erfahrung, tiefes Verständnis und die Fähigkeit, über den Tellerrand hinaus zu denken.
Die „Mythos des automatisierten Lernens“ ist somit eine Warnung vor einer scheinbar einfachen Lösung, die sich als Illusion entpuppt. Die Technologie hat das Potenzial, die Bildung zum Positiven zu verändern, wenn sie richtig eingesetzt wird. Was heute wie eine verlockende Abkürzung erscheint, kann morgen bedeuten, wichtige Kompetenzen dauerhaft zu verlieren. Es liegt an allen Beteiligten – Lehrern, Schülern, Politikern und Unternehmen –, diesen Wandel verantwortungsvoll zu gestalten und zu vermeiden, dass technologische Fortschritte zur Entwertung echter Bildung führen.