Die Psychologie als Wissenschaft hat sich in den letzten anderthalb Jahrhunderten stark entwickelt, doch trotz zahlreicher Erkenntnisse scheint sie in einer Art Stillstand verhaftet zu sein. Viele Fachleute klagen über das Fehlen eines einheitlichen Paradigmas, das die komplexen Prozesse des Geistes klar und systematisch beschreibt. Anfang 2025 wurde ein neues Konzept vorgestellt, das das Potenzial hat, diese Lücke zu schließen und die psychologische Forschung auf eine neue Ebene zu heben. Diese sogenannte cybernetische Psychologie orientiert sich an der Theorie der Kontrollsysteme und verspricht, unser Verständnis von Geist, Persönlichkeit und psychischen Erkrankungen grundlegend zu verändern. Doch was genau verbirgt sich hinter diesem neuen Paradigma, warum ist es so bedeutsam, und welche Auswirkungen könnte es auf Forschung und Therapie haben? Um die Tragweite dieses Ansatzes zu begreifen, muss zunächst der Begriff des Paradigmas erläutert werden.
Ein Paradigma ist mehr als nur eine neue Idee oder ein Trend. Es beschreibt ein System von Einheiten und Regeln, mit deren Hilfe Wissenschaftler die Welt um sie herum verstehen und erklären. Historisch betrachtet waren die bedeutsamsten wissenschaftlichen Durchbrüche immer solche, die klare Einheiten definierten und Regeln aufstellten, wie diese Einheiten interagieren. Charles Darwin brachte mit der Evolutionstheorie Arten als Einheit ins Spiel, Isaac Newton definierte physikalische Gesetze, und die Molekularbiologie stellte DNA, RNA und Proteine als fundamentale Bausteine des Lebens vor. In der Psychologie aber hat sich kein solches einheitliches System etabliert.
Stattdessen dominiert oft eine Mischung aus unscharfen Begriffen, Theorien und Methoden, die häufig schwer fassbar sind und wenig miteinander verbunden erscheinen. Ganz vereinfacht gesagt, lässt sich die bisherige Forschung in zwei Kategorien einteilen, die beide in ihrem Nutzen für das Ganze eingeschränkt sind: naive Forschung, die einfach drauflos experimentiert ohne klare Theorie, und impressionistische Forschung, die mit abstrakten Konzepten hantiert, die oft mehr Worte als Erklärungen sind. Diese Herangehensweisen haben zwar interessante Daten hervorgebracht, doch sie schaffen selten ein kohärentes Gesamtbild. Hier setzt das neue Paradigma an: Die cybernetische Psychologie basiert auf Kontrollsystemen als Grundeinheiten des Geistes. Kontrollsysteme kennt man von technischen Geräten wie Thermostaten.
Ein Thermostat misst die aktuelle Temperatur und steuert Heiz- oder Kühlsysteme so, dass eine voreingestellte Zieltemperatur möglichst konstant gehalten wird. Der Unterschied zwischen Ist- und Zielwert wird als Fehler bezeichnet, und die Aufgabe des Systems ist es, diesen Fehler zu minimieren. Übertragen auf die Psychologie heißt das: Unser Geist besteht aus vielen solchen Kontrollsystemen, die verschiedene innere und äußere Variablen überwachen und steuern, um ein Gleichgewicht zu erhalten, das Überleben und Wohlbefinden sichert. Die Kontrollsysteme des Geistes könnten beispielsweise den Körpertemperaturhaushalt, Hunger, Durst, Schmerz oder soziale Bedürfnisse regeln. Jedes dieser Systeme arbeitet nach einem ähnlichen Prinzip: Es misst den aktuellen Zustand, vergleicht ihn mit einem Zielwert und erzeugt bei Abweichungen sogenannte Fehler-Signale, die wir als Emotionen empfinden können.
Hunger, Schmerz oder Einsamkeit wären demnach error signals - Fehlermeldungen, die uns zum Handeln auffordern. Dieser cybernetische Ansatz ermöglicht es, Emotionen auf eine neuartige Weise zu verstehen, fernab von subjektiven Beschreibungen und schwer greifbaren Begriffen. Emotionen sind nicht willkürliche Gefühle oder nebulöse Zustände, sondern messbare Signale innerhalb eines Regelkreises. Dabei ist das, was wir umgangssprachlich als „Glück“ bezeichnen, etwas anderes: Es tritt nicht als Fehlerzustand auf, sondern als Bewegung hin zur Erreichung eines Zielwertes - zum Beispiel, wenn wir nach langem Hunger endlich essen oder nach Sicherheitsbedürfnissen Geborgenheit finden. Die Klarheit dieses Modells bietet auch eine neue Perspektive auf Persönlichkeit und psychische Gesundheit.
Persönlichkeit könnte in diesem Rahmen als die individuelle Variation der Zielwerte und der Sensitivität der Kontrollsysteme verstanden werden. Ein extravertierter Mensch hätte demnach beispielsweise einen höheren Sollwert oder eine stärkere Reaktion im sozialen Kontrollsystem. Das führt zu konkreten, messbaren Unterschieden anstelle von abstrakten, wenig greifbaren Traits. Ebenso eröffnet das Paradigma neue Wege im Verständnis psychischer Erkrankungen. Verschiedene Formen von psychischen Störungen könnten als Fehlfunktionen der Kontrollsysteme erklärt werden.
Ein ausfallendes Fehlersignal könnte zur Gefühllosigkeit oder Depression führen, während eine Überaktivierung ähnliche Symptome wie eine Manie erzeugen könnte. Diese Betrachtung steht im Gegensatz zu den bisherigen diagnostischen Klassifikationen, die häufig rein symptomorientiert sind und kaum die zugrundeliegenden mechanistischen Prozesse berücksichtigen. Interessant ist auch die Abgrenzung zur Neurowissenschaft: Die klassische Reduktion auf Neuronen oder biochemische Vorgänge greift für das Verständnis komplexer psychologischer Phänomene nur bedingt. So wie die Planung eines U-Bahn-Systems nicht mit der Betrachtung von Eisenatomen beginnt, so ist es auch in der Psychologie entscheidend, auf einer höheren Eben der Systeme zu arbeiten, ohne die fundamentalen Ebenen zu ignorieren. Kontrollsysteme bilden diese Zwischenschicht, die es erlaubt, komplexe Verhaltensweisen und mentale Zustände zu modellieren, ohne in mikroskopische Details zu versinken.
Die praktische Umsetzung dieses prüfbaren Modells steht noch am Anfang. Es braucht neue experimentelle Ansätze, um die Existenz und Funktionsweise einzelner Kontrollsysteme zu identifizieren. Methoden wie das gezielte Ausschalten bestimmter Reize oder das schrittweise Hinzufügen von Handlungskomponenten sollen helfen, einzelne „Antriebe“ zu isolieren und zu verstehen, wie sie unser Verhalten beeinflussen. Solche Forschung verspricht, weit über bloße Korrelationsstudien oder rein statistische Analysen hinauszugehen und echte kausale Beziehungen aufzudecken. Die Herausforderungen sind erheblich: In einem komplexen System mit konkurrierenden Kontrollsystemen, die gleichzeitig unterschiedliche Ziele verfolgen, gilt es zu verstehen, wie Entscheidungen getroffen, Prioritäten gesetzt und Konflikte zwischen Bedürfnissen gelöst werden.
Dabei spielen Faktoren wie die Stärke der Fehlersignale, die „Gewichtungen“ der einzelnen Systeme und deren Lernfähigkeit eine zentrale Rolle. Wie z. B. das Atembedürfnis (Oxygen Governor) fast immer alle anderen Bedürfnisse überstimmt, während soziale Bedürfnisse (Loneliness Governor) oft gedämpfter wirken, zeigt exemplarisch die Komplexität der inneren Dynamik. Und doch bietet diese Herangehensweise das große Versprechen, von rein symptomorientierten Modellen zu einem echt mechanistischen Verständnis der Psyche zu gelangen.
Die Aussicht, psychologische Erkrankungen als Störungen in den Kontrollsystemen zu begreifen, könnte zu gezielten Behandlungsstrategien führen, die an den Ursachen statt nur an den Symptomen ansetzen. Ebenso könnte die Forschung über Persönlichkeit echte, messbare Parameter entdecken, die individuelle Unterschiede im Verhalten nachvollziehbar machen. Seit der Ablösung des Behaviorismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Psychologie keine vergleichbare, breit akzeptierte paradigmatische Neuausrichtung erfahren. Die cybernetische Psychologie stellt daher einen mutigen und radikalen Vorstoß dar.
Sie lädt Forscher ein, nicht nur „falsifizierbar“ zu denken, sondern das Experimentieren auf eine systematische und umkehrbare Weise zu betreiben — mit klaren Einheiten und Regeln, die überprüft und angepasst werden können. Natürlich wird diese Theorie nicht ohne Kritik bleiben. Einige bemängeln, dass wichtige Vorarbeiten und Theorien wie die von Norbert Wiener oder Karl Friston nicht hinreichend gewürdigt werden. Andere vermissen eine klarere Einbindung in bestehende neurowissenschaftliche Erkenntnisse. Doch jenseits aller Differenzen erleichtert das neue Paradigma einen neuen Dialog über die Grundlagen und Grenzen der Psychologie, der lange überfällig war.
Die praktischen Implikationen reichen vom besseren Verständnis alltäglicher emotionaler Erfahrungen bis hin zur Entwicklung von künstlichen Intelligenzen, die mithilfe von Regeln für Kontrollsysteme menschliches Verhalten besser nachahmen oder sogar therapeutisch unterstützen können. Auch Themen wie Lernen, Tierwohl oder Entscheidungsfindung werden durch die klare, mechanistische Sichtweise bereichert. Die Zukunft der Psychologie könnte also darin bestehen, Kontrollsysteme als Bausteine des Geistes zu verstehen und zu erforschen, wie deren komplexe Zusammenspiele unser Erleben und Verhalten formen. Mit diesem neuen Werkzeugkasten lassen sich vielleicht endlich scheinbar disparate Phänomene in einem kohärenten Gesamtmodell integrieren. Die Grundidee dabei ist nicht nur verlockend, sondern auch notwendig: Nur wer die Spielsteine und die Spielregeln kennt, kann das Spiel verstehen, vorhersagen und verändern.
Die Herausforderung und zugleich Chance besteht nun darin, dass Forscher, Therapeutinnen und Entwickler dieses Paradigma konkretisieren, testen und – wenn nötig – weiterentwickeln. So wie einst das Modell des Atoms nicht perfekt war, aber als Startpunkt eine Revolution ermöglichte, ist die cybernetische Psychologie eine Einladung, die Wissenschaft des Geistes in eine neue, produktive Phase zu führen. Ein Paradigmenwechsel, der es wagt, sich zu irren, aber auf dem Weg zu echtem Verständnis. In einer Zeit, in der psychische Erkrankungen und persönliche Krisen zunehmen, könnte diese fundamentale Neuausrichtung der Psychologie die Türen zu effektiveren Therapien, tieferer Selbstkenntnis und innovativen Forschungsmethoden öffnen. Das ist nicht weniger als ein Aufruf, neue Wege zu gehen und alte Gewohnheiten zu hinterfragen.
Die Zukunft wartet – die Zeit ist reif für die cybernetische Psychologie.