In den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wirkten die Straßen amerikanischer Städte wie weitläufige öffentliche Parks. Kinder spielten gefahrlos auf dem Asphalt, Eltern ermutigten sie, draußen zu sein, und Verkehr bewegte sich langsam mit nicht mehr als zehn Meilen pro Stunde. Es war eine Welt, in der das Miteinander von Fußgängern, Tieren und Fuhrwerken selbstverständlich und harmonisch erschien. Doch der Einzug des Automobils veränderte diese Szenerie radikal und brachte eine neue, gefährliche Dynamik mit sich.
Plötzlich wurde eine Maschine auf Rollen zum Symbol für den Verlust der Unbeschwertheit und Sicherheit in der Stadt. Millionen von Menschen, unter ihnen viele Kinder, wurden jährlich durch Autos verletzt oder getötet – eine Realität, die die damalige Bevölkerung zutiefst erschütterte. Die öffentliche Wahrnehmung des Autos als eine Art mordende Bestie, vergleichbar mit Moloch, der antiken Gottheit, der Kinder geopfert wurden, war Ausdruck einer tiefgreifenden Angst. Moloch als Metapher bezeichnete das Automobil als modernes Opfermonster, das das Leben der Unschuldigen forderte und die Lebensqualität in den Städten untergrub. Zeitgenössische Zeitungen berichteten ausführlich über die Tragödien und würdigten die Opfer mit Paraden und Denkmälern.
Weiße Sterne wurden von den Müttern der verunglückten Kinder getragen als Zeichen ihrer Trauer und des gesellschaftlichen Gedenkens. Die Konzeption der Straße wandelte sich von einem offenen Raum für Begegnung und Bewegung in alle Richtungen zu einem klar regulierten, auf Kraftfahrzeuge zugeschnittenen Verkehrsraum. Die Regeln des Straßenverkehrs wurden neu definiert, um den Bedürfnissen und der Dominanz der Fahrzeuge gerecht zu werden. Vor dem Aufkommen des Autos hatten sich Menschen selbstverständlich und ohne besondere Rücksicht in der Straßenmitte aufgehalten. Es war ein neutraler öffentlicher Raum, vergleichbar mit einem Park oder einer Fußgängerzone in heutigen Städten.
Doch das Auto löste eine Verdrängung der Fußgänger aus und verlangte von ihnen neue Verhaltensweisen. Nun galt es, den Straßenverkehr zu respektieren und sich an vorgegebene Wege zu halten. Ein wichtiger Akteur dieser Veränderung war eine organisierte Interessengruppe, die sich „Motordom“ nannte. Diese Vereinigung von Autofirmen und Lobbyisten betrieb eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit, um das Bild des Autos von einer tödlichen Gefahr zu einem akzeptierten und unverzichtbaren Verkehrsmittel umzuwandeln. Im Zentrum ihrer Strategie stand die Verschiebung der Schuldfrage: Unfallverursacher waren fortan nicht die Fahrzeuge selbst, sondern die Menschen, vor allem die Fußgänger, die angeblich unvorsichtig und rücksichtslos die Straßen überquerten.
Dabei wurde erstmals der Begriff „Jaywalking“ geprägt, der ursprünglich Menschen verspottete, die aus ländlichen Regionen in die Stadt kamen und unbedarft in einer für Kraftfahrzeuge unvorbereiteten Weise die Straßen nutzten. Motordom verwandelte diesen Schimpfbegriff in eine juristische Kategorie, mit der das unerlaubte oder unachtsame Überqueren von Straßen sanktioniert wurde. Die Folge war eine gedankliche Neuordnung: Die Straße gehörte jetzt primär den Fahrzeugen, und Fußgänger mussten sich unterordnen. Die soziale Bedeutung des Begriffs „Jaywalking“ veränderte sich über die Jahrzehnte, bis das unerlaubte Betreten der Fahrbahn zum Regelverstoß erklärt wurde. Dieser Wandel hatte weitreichende gesellschaftliche Folgen.
Die urbane Freiheit, sich frei zu bewegen und gemeinsam die Straßen als Lebensraum zu nutzen, wurde zugunsten einer zunehmenden Dominanz des Autos aufgegeben. Die alte Leichtigkeit der Straßen verschwand, und mit ihr ein Teil des Gemeinschaftslebens. Trotz der massiven gesellschaftlichen Auswirkungen blieb die Liebe zum Auto in Amerika ungebrochen. Das Kraftfahrzeug wurde zum Symbol von Freiheit, Mobilität und Fortschritt – selbst wenn diese Liebesbeziehung oft im Widerspruch zur Vernunft stand. Die Kritik an der zerstörerischen Kehrseite des Automobils kam immer wieder auf, etwa in Karikaturen oder öffentlichen Debatten, doch die Faszination blieb bestehen.
Die Folgen des städtischen Umbruchs, der mit der Verdrängung der Fußgänger begann, sind in den heutigen Metropolen noch sichtbar. Breite Straßen und Autobahnen zerschneiden Stadtviertel, Fußgängerzonen sind selten und oft nebensächlich. Die Kompromisse zwischen Verkehrssicherheit, urbaner Lebensqualität und automobilem Verkehr bedeuten nach wie vor eine Herausforderung für Städteplaner und politische Entscheidungsträger. Die historische Betrachtung zeigt aber auch, dass dieser Wandel kein unvermeidliches Naturgesetz ist, sondern Ergebnis gezielter gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Die Einführung des Automobils als dominierendes Verkehrsmittel hat die Städte tiefgreifend transformiert, begleitet von einem Konflikt zwischen Freiheit und Kontrolle, zwischen Fortschritt und Verlust.
Indem Motordom die Verantwortung für Unfälle von der Maschine auf die offenbar unvernünftigen Fußgänger verlagerte, wurde auch die Wahrnehmung der Straße verändert. Was einst ein gemeinsamer Raum war, wurde zum Terrain der Kraftfahrzeuge – ein moderner Moloch, der vor allem Kinderleben gefordert hat. Die Geschichte dieses Prozesses ist mehr als eine Episode der Verkehrsgeschichte: Sie ist eine Blaupause für das Verhältnis zwischen Technik, Gesellschaft und öffentlichem Raum. Auch heute noch lohnt sich ein kritischer Blick auf diesen Wandel. Die Suche nach sicheren, lebendigen und menschenfreundlichen Städten steht im Spannungsfeld zwischen den Interessen des motorisierten Verkehrs und den Bedürfnissen der Fußgänger.