Seit mehr als zwölf Jahren widmet sich ein Buchclub in Austin, Texas, einer außergewöhnlichen literarischen Herausforderung: dem kontinuierlichen Lesen des ebenso komplexen wie rätselhaften Romans „Finnegans Wake“ von James Joyce. Dieses Werk gilt als eines der anspruchsvollsten Bücher der englischsprachigen Literaturgeschichte, und die Teilnehmer des Clubs haben es sich zur Aufgabe gemacht, es langsam, mit Hingabe und großer Geduld zu entschlüsseln. Dabei ist ihr Kurs beeindruckend langsam, denn sie lesen nur eine Seite alle zwei Wochen und beschäftigen sich intensiv mit jeder Zeile dieses literarischen Meisterwerks. „Finnegans Wake“ wurde 1939 veröffentlicht und sprengt nahezu alle konventionellen Erzählformen. Es beginnt mit einem Satzfragment und endet in ähnlicher Weise, kombiniert zahlreiche Sprachen, Dialekte, Wortspiele und kulturhistorische Anspielungen, die dem Leser viel abverlangen.
Die Handlung ist weder linear noch einfach nachvollziehbar. Stattdessen gleicht das Werk einem vielschichtigen, experimentellen Gewebe aus Sprache und Bedeutung, das kaum ein Leser im Alleingang vollständig verstehen kann. Gerade deshalb ist es besonders faszinierend, dass sich ein Buchclub derart engagiert mit dem Text auseinandersetzt. Die Leitung des Finnegans Wake Reading Group in Austin liegt in den Händen von Peter Quadrino, einem ausgewiesenen Joyce-Kenner und Organisator, der regelmäßig Treffen ansetzt, bei denen Menschen aus aller Welt gemeinsam per Zoom versuchen, der Bedeutung von Joyces Text auf die Spur zu kommen. Die Treffen beginnen mit einer sozialen Phase, bei der sich die Teilnehmer austauschen.
Anschließend liest jeder in der Runde jeweils zwei Zeilen vor, bis die gesamte Seite erschlossen ist. Die verbleibende Zeit wird für die Analyse, Recherche und das gemeinschaftliche Verständnis intensiver Passagen genutzt. Die Komplexität des Werkes hat den Rhythmus im Laufe der Jahre beeinflusst, denn ursprünglich las die Gruppe zwei Seiten pro Treffen, doch die Fülle an Inhalten und Diskussionspunkten verlangsamte dieses Tempo deutlich. Der besondere Reiz dieser Lesegruppe liegt im gemeinsamen Prozess, nicht im schnellen Abschluss. Peter Quadrino sagt, dass er kaum darüber nachdenkt, wie es sein wird, wenn das Buch doch einmal abgeschlossen wird – im Grunde ist das Lesen eine endlose Reise, die bei Freude am Werk stets von Neuem beginnen kann.
Dieses Denken unterstreicht den gemeinschaftlichen Charakter solcher Leseprojekte, die das Ziel haben, Literatur gemeinsam zu erleben und dabei über reine Oberflächlichkeit hinauszugehen. Die Bedeutung von „Finnegans Wake“ innerhalb der literarischen Welt ist nicht zu unterschätzen. Obwohl das Werk viele Leser abschreckt, hat es seit seiner Veröffentlichung zahlreiche Leser und Leserinnen weltweit inspiriert. So gibt es Lesekreise in Städten wie Houston, New York, Boston, Seattle, Dublin und Kyiv, die alle ähnliche Ziele verfolgen: das Verständnis eines Werks, das fast wie ein literarisches Mysterium wirkt. Dieses globale Interesse an einem so schwierigen Buch zeigt, wie Literatur die Kraft besitzt, Menschen zu verbinden – unabhängig von geografischen oder kulturellen Unterschieden.
Das Engagement der Gruppe in Austin spiegelt ein tiefes Interesse wider, Literatur nicht nur passiv zu konsumieren, sondern aktiv zu erforschen. Dabei ist die Betrachtungsweise der Teilnehmer durch ihre gemeinsame Beschäftigung mit der Sprache, den historischen Bezügen und den überraschenden literarischen Techniken geprägt. Die Zusammenarbeit erfolgt häufig interdisziplinär, inklusive sprachwissenschaftlicher und philosophischer Betrachtungen, die notwendig sind, um Bedeutungsebenen des Textes zu erreichen. Auch die Online-Präsenz und die zunehmende Nutzung digitaler Plattformen sind wichtige Faktoren, die der Gruppe zugutekommen. Wo früher Treffen gelegentlich im Malvern Books, einer bekannten Buchhandlung in Austin, stattfanden, ermöglichen mittlerweile Zoom-Calls Menschen aus aller Welt die Teilnahme.
Dieser virtuelle Austausch bereichert die Diskussion und sorgt für einen internationalen Gedankenaustausch, der die Erfahrungen und Interpretationen noch vielfältiger macht. Gerade in einer Zeit, in der physische Treffen nicht immer möglich sind, zeigt die Gruppe eindrucksvoll, wie digitale Medien Verbindungen schaffen und literarische Gemeinschaften stärken können. Die Geschichte des Buchclubs in Austin erinnert an die besondere Beziehung, die Leser zu einem Werk entwickeln können. In einer Gesellschaft, die oft von schnellen Konsumgewohnheiten und flüchtigen Inhalten geprägt ist, steht dieses Projekt für das Gegenteil: Langsames, bedachtes Lesen, tiefe Reflexion und gemeinsames Entdecken. „Finnegans Wake“ ist kein Buch für die schnelle Lektüre zwischendurch – es ist ein Buch für die Lebenszeit.
Darüber hinaus zeigt die Lesegruppe einen anderen Aspekt der literarischen Kultur: Wie komplizierte Werke eine treue Leserschaft finden können, wenn sie in einem unterstützenden, gemeinschaftlichen Umfeld angegangen werden. Für viele Teilnehmende ist die Beschäftigung mit Joyces Text neben dem intellektuellen Anspruch auch eine Quelle der Freundschaft und des kulturellen Austauschs geworden. Die Erfahrung, gemeinsam zu lesen, zu diskutieren und gemeinsam voranzukommen, wirkt verbindend und macht den Prozess zu etwas Bedeutungsvollem über die reine Literatur hinaus. Peter Quadrino selbst hat seine Leidenschaft für Joyce und insbesondere für „Finnegans Wake“ über viele Jahre entwickelt. Seine zahlreichen Reisen nach Irland und seine Vorträge auf internationalen Joyce-Konferenzen zeugen von seiner Hingabe und seinem Fachwissen.
Viele in der Gruppe sind dank seiner Initiative Teil eines globalen Netzwerks von Joyce-Enthusiasten geworden. Letztlich illustriert das Projekt, welche Bedeutung Literatur in der heutigen Gesellschaft noch haben kann. Lesen ist weniger eine schnell erledigte Aufgabe, sondern eine Form der gemeinsamen kulturellen Praxis, die Wissen vertieft, Gemeinschaft stiftet und persönliche wie intellektuelle Horizonte erweitert. Wer interessiert ist daran, „Finnegans Wake“ zu entdecken, kann durch das Beispiel der Austin-Gruppe Mut fassen, auch komplexe Werke nicht abzuschrecken, sondern ihr Geheimnis gemeinsam mit anderen zu entschlüsseln. Die langjährige Geschichte dieses Buchclubs ist gleichermaßen ein Zeugnis für die Ausdauer und die Freude am Lesen, als auch für die Fähigkeit von Literatur, Menschen über Jahrzehnte zu inspirieren und zu verbinden.
Die Reise mit James Joyce geht weiter – mit einem gemeinsamen Blick auf nur eine Seite alle zwei Wochen, in einer Welt, in der das Lesen mehr ist als bloße Konsumtion: Es ist ein lebendiges, kollektives Abenteuer.