Der Beginn des selbstständigen Laufens wird seit langem als ein entscheidender Meilenstein in der kindlichen Entwicklung betrachtet und dient sowohl in der klinischen Praxis als auch in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge als wichtiger Indikator für neurologische und motorische Reife. Während Umwelteinflüsse wie Ernährung, Kultur und soziale Gegebenheiten zweifellos eine Rolle spielen, haben sich die genetischen Einflüsse auf dieses Entwicklungsstadium bisher als weniger gut erforscht erwiesen. Eine kürzlich veröffentlichte umfangreiche Meta-Analyse mit Beteiligung von mehr als 70.000 Säuglingen mit europäischer Abstammung bringt nun Licht in die komplexen Zusammenhänge genetischer Faktoren und dem Alter, in dem Kinder beginnen, selbstständig zu laufen. Die Untersuchung wurde in vier großen Kohorten durchgeführt, darunter vielzitierte und tiefgehend analysierte Populationen wie die Norwegische Mutter-Kind-Kohorte (MoBa), das Niederländische Zwillingsregister (NTR), die Lifelines-Studie aus den Niederlanden sowie die britische National Study for Health and Development (NSHD).
Dieses Studiendesign ermöglicht eine umfassende genetische Analyse, die statistische Robustheit und Populationstransparenz garantiert. Die Untersuchung des Alters beim Laufenlernen ist von großer Bedeutung, da das Alter, in dem ein Kind zu laufen beginnt, einen Eindruck von der Reife neuronaler Netzwerke und motorischer Systeme vermittelt. Im klinischen Alltag wird hierbei häufig ein Altersgrenze von 18 Monaten als Richtwert genutzt. Wenn Kinder länger brauchen, selbstständig zu laufen, können motorische oder neurologische Probleme vorliegen, die eine weitergehende medizinische Abklärung erfordern. Die große Bandbreite typischer Entwicklungszeiten - von etwa 8 bis 18 Monaten - lässt jedoch auch eine erhebliche Variation zu, bei der nicht alle verspäteten Läufer zwangsläufig eine Erkrankung haben.
Die Meta-Analyse zeigt deutlich, dass genetische Faktoren eine zentrale Rolle bei der Variation des Laufbeginns spielen. Die sogenannte SNP-basierte Erblichkeit – ein Maß dafür, wie viel der Variation durch einzelne genetische Varianten erklärt werden kann – wurde mit etwa 24 Prozent beziffert. Dies unterstreicht den starken Einfluss gemeinsamer genetischer Variationen auf diesen Entwicklungsprozess. Noch interessanter ist die Erkenntnis, dass ungefähr 11.900 genetische Varianten in Summe etwa 90 Prozent der erklärbaren genetischen Varianz abdecken.
Damit zeigt sich, dass das Laufenlernen durch eine große Anzahl kleiner genetischer Effekte beeinflusst wird. Man spricht in der Genetik von Polygenie, das heißt, das Merkmal wird durch das Zusammenwirken sehr vieler Gene bestimmt und nicht durch einzelne Hauptgene. Im Rahmen der Analysen konnten elf unabhängige genetische Loci (Abschnitte im Genom) identifiziert werden, die mit dem Alter beim Laufenlernen in Verbindung stehen. Darunter sticht ein genetischer Marker hervor, der nahe am Gen RBL2 liegt, welches bereits mit seltenen neuroentwicklungsbedingten Erkrankungen assoziiert ist, die sich unter anderem durch verzögertes oder fehlendes Gehen auszeichnen. RBL2 kodiert für ein regulatorisches Protein, das in der Gehirnentwicklung eine Rolle spielt.
Bei vollständigem Funktionsverlust von RBL2 wurden in klinischen Fallserien schwere motorische und kognitive Beeinträchtigungen beobachtet. Die Meta-Analyse verknüpft nun erstmals auch häufigere, gemeinsame Varianten in diesem Gen mit der normalen Variation von Laufbeginnzeiten. Neben der Entdeckung spezifischer genetischer Abschnitte wurden zudem Muster genetischer Korrelationen untersucht. Das heißt, es wurde geprüft, inwieweit die genetischen Einflüsse, die das Glaufenlernen betreffen, auch mit anderen physischen, kognitiven oder psychiatrischen Merkmalen verbunden sind. Dabei zeigten sich signifikante negative genetische Korrelationen mit dem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) sowie mit dem Body-Mass-Index (BMI) im Kindes- und Erwachsenenalter.
Das bedeutet, dass eine genetische Veranlagung für ein späteres Laufenlernen mit einem geringeren genetischen Risiko für ADHS und einem niedrigeren BMI einhergeht. Gleichzeitig wurde eine positive genetische Korrelation mit der Hirnrindenfaltung (Gyrifikation) beobachtet, die bei Kindern und Erwachsenen mit späterem Laufbeginn stärker ausfällt. Die Hirnrindenfaltung spiegelt die Komplexität der Gehirnstruktur wider und wird mit neuronalen Funktionen und Reifegraden in Verbindung gebracht. Die Analyse hat auch einen Polygenen Score (PGS) für den Laufbeginn abgeleitet, eine kumulative genetische Risikoeinschätzung, die etwa 3 bis 5,6 Prozent der phänotypischen Varianz in unabhängigen Datensätzen vorhersagt. Innerhalb von Geschwisterpaaranalysen konnte gezeigt werden, dass dieser Score nicht durch indirekte genetische Effekte verfälscht ist, sondern auf direkte Gen-Effekte hinweist.
Zudem verband sich der PGS mit dem Volumen von Hirnregionen bei Neugeborenen, die für motorische Kontrolle zentral sind, etwa den Basalganglien, dem Kleinhirn und der Hirnstammregion. Die Ergebnisse weisen auf ein komplexes Geflecht aus genetischen Faktoren hin, welche die neuronale Entwicklung vor und nach der Geburt beeinflussen und sich in der zeitlichen Variation des motorischen Meilensteins „Laufen lernen“ widerspiegeln. Die Identifikation dieser genetischen Einflüsse bietet neue biologische Einsichten, die über den rein klinischen Wert des Laufbeginn-Alters hinausgehen. So könnte die genetische Information in Zukunft dazu beitragen, spezifischere Frühwarnsysteme für Entwicklungsstörungen zu etablieren und Interventionen besser zu individualisieren. Historisch wurde angenommen, dass motorische Meilensteine vor allem von Umweltfaktoren beeinflusst sind.
Die vorliegenden Daten unterstreichen jedoch, dass genetische Effekte ebenfalls eine wesentliche Rolle spielen – und zwar insbesondere solche, die die Entwicklung ausgewählter Hirnareale wie Basalganglien und Kleinhirn steuern. Diese Strukturen sind essentiell für die Erlernung motorischer Abläufe, Körperkoordination und Bewegungsplanung. Das Zusammenspiel zwischen genetischen Dispositionen und Umweltbedingungen wie Bewegungserfahrung, Kultureinflüssen und Ernährung führt zu der beobachteten Variabilität im Laufbeginn. Ein weiteres relevantes Ergebnis ist die genetische Überlappung mit kognitiven Leistungen und Bildungserfolg. Varianten, die mit späterem Laufbeginn assoziiert sind, erhöhen zugleich tendenziell die Wahrscheinlichkeit für bessere kognitive Fähigkeiten und längere Bildungszeiten.
Dies deutet darauf hin, dass sich neurologische Entwicklungsprozesse differenziert auf verschiedene Aspekte der Gehirnfunktion auswirken können. Trotz dieser positiven genetischen Korrelationen mit kognitiven Leistungen ist wiederum ein moderater negativer Zusammenhang mit ADHS festgestellt worden, was auf eine komplexe Balance genetischer Risikofaktoren hinweist. Auf Seiten der klinischen Relevanz weist die Studie darauf hin, dass das Überschreiten der 18-Monats-Grenze für selbstständiges Laufen weiterhin eine wichtige Indikation für weitere Abklärungen bleibt. Allerdings verweisen die Ergebnisse auch darauf, dass viele späte Läufer wahrscheinlich nur eine normale Variation zeigen und nicht unbedingt eine neurologische Erkrankung aufweisen. Umgekehrt kann frühzeitiges Laufen nicht automatisch als uneingeschränkt positives Zeichen interpretiert werden, da Aktivitätsniveau und Aufmerksamkeit die motorische Praxis beeinflussen und so genetische Risikofaktoren etwa für ADHS mit früherem Laufbeginn zusammenhängen können.
Die Studienergebnisse sind insbesondere für Bevölkerungsgesundheit, Pädiatrie und Entwicklungsneurologie bedeutsam. Sie legen nahe, dass genetische Untersuchungen zum Entwicklungsverlauf frühkindlicher motorischer Fähigkeiten in Zukunft mehr Aufmerksamkeit erhalten und in integrierte Screeningverfahren einfließen sollten. Genetische Scores könnten neben klinischen Beobachtungen als Ergänzung zur Risikoabschätzung dienen und helfen, rechtzeitig diejenigen Kinder zu identifizieren, die von gezielten therapeutischen Maßnahmen profitieren. Die Autoren der Meta-Analyse betonen die Limitierung, dass die untersuchte Stichprobe ausschließlich europäische Abstammung umfasst. Es bleibt daher offen, ob sich die hier gewonnenen Erkenntnisse direkt auf andere Bevölkerungsgruppen übertragen lassen.
Der Ausbau genetischer Studien auf international diversifizierte Kohorten ist dringend erforderlich, um ein global gültiges Bild der genetischen Architektur motorischer Entwicklungsmeilensteine zu zeichnen. Zusammenfassend zeigt die Untersuchung, dass das Alter beim selbstständigen Laufenlernen ein multifaktoriell genetisch beeinflusstes Merkmal ist, das starke Verbindungen zu strukturellen Eigenschaften des Gehirns und zu anderen wichtigen gesundheitlichen und kognitiven Merkmalen aufweist. Die Entdeckung spezifischer genetischer Loci und deren funktionelle Annotationen liefern wichtige Ansatzpunkte für weitergehende biologische Forschung und potenzielle klinische Anwendungen. Während Umweltfaktoren weiterhin eine Rolle spielen, unterstreichen diese Befunde die zentrale Bedeutung der genetischen Komponente für ein besseres Verständnis der frühen kindlichen Entwicklung.