In den letzten Monaten hat der Social-Media-Dienst X, ehemals als Twitter bekannt, eine deutliche Abnahme seiner Nutzerzahlen in Europa verzeichnet. Laut dem jüngsten Transparenzbericht, welcher zur Erfüllung der Europäischen Digital Services Act (DSA) Anforderungen erstellt wurde, sank die Zahl der aktiven Nutzer in der EU von ungefähr 106 Millionen Anfang 2024 auf rund 95 Millionen bis März 2025. Die Zahl der eingeloggenen Nutzer fiel im gleichen Zeitraum von 67 Millionen auf etwas über 61 Millionen. Diese Entwicklung wirft wichtige Fragen auf, warum gerade in Europa eine Abwanderung stattfindet und welche Auswirkungen dies auf den Dienst und seine Nutzerstruktur hat. Die Ursachen dieses Nutzerschwunds lassen sich hauptsächlich auf zwei Bereiche zurückführen: die Inhalte und das politische Umfeld, das auf der Plattform vorherrscht, sowie die Qualität der Moderation und Bedienbarkeit für Nutzer.
Die Übernahme von Twitter durch Elon Musk im Jahr 2022 markierte eine Zäsur, die die Entwicklung des Dienstes prägt. Musk hat in der Folge Bannungen aufgehoben, die zuvor durch die alte Twitter-Administration verhängt wurden, darunter auch prominente und kontroverse Figuren wie Steve Bannon. Diese Entscheidungen trugen zu einer veränderten Atmosphäre auf der Plattform bei, die besonders in Europa auf Widerstand stieß. Die Inhalte, die von einigen als rechtspopulistisch oder extrem empfunden werden, fanden eine verstärkte Sichtbarkeit. Ein Beispiel hierfür ist die Präsenz von Alice Weidel, der Sprecherin der deutschen rechtspopulistischen Partei AfD, deren Ansichten in weiten Teilen Europas kritisch bewertet werden.
Mit einer steigenden Verbreitung politisch umstrittener Äußerungen nahm auch die Wahrnehmung zu, dass sich X zunehmend zu einem Ort für polarisierende und mitunter toxische Diskurse verwandelt. Ein weiterer wesentlicher Faktor für den Nutzerschwund in Europa ist die sinkende Qualität der Inhaltsmoderation. Musk selbst betonte öffentlich seine Skepsis gegenüber strikten Moderationsregeln mit dem Ziel, die Meinungsfreiheit zu stärken. Allerdings führte dies vielfach zu einer Zunahme von Desinformation, Hassrede und problematischen Inhalten, die von vielen europäischen Usern als belastend wahrgenommen werden. Im Gegensatz zu früheren Maßnahmen, bei denen problematische Inhalte schneller und konsequenter entfernt wurden, wird heute eine lockerere Haltung bekannt.
Dies trug dazu bei, dass Nutzer sich zunehmend unwohl fühlten und alternative Plattformen suchten. Dabei sind es gerade jüngere und technisch versierte Nutzer, die auf Plattformen wie Bluesky umsteigen. Diese Alternativdienste werben aktiv mit einer besseren Moderation, weniger toxischen Diskussionskulturen und innovativeren Funktionalitäten, die den digitalen Bedürfnissen der Nutzer besser entsprechen. Für viele Europäer ist diese Migration ein Ausdruck des Anspruchs, sichere und respektvolle Räume im digitalen sozialen Austausch zu finden. Die Abwanderung zu solchen Plattformen zeigt gleichzeitig, dass es nicht die Nutzung sozialer Medien an sich ist, die rückläufig ist, sondern das Vertrauen in bestimmten Anbietern, vor allem in X.
Neben den inhaltlichen und gesellschaftlichen Aspekten spielt auch die wirtschaftliche Seite eine Rolle. Die anfängliche Distanzierung vieler Werbekunden von X, bedingt durch die Umgestaltung der Plattform unter Musk, hatte finanzielle Auswirkungen. Zwar kehrten einige Werbetreibende zwischenzeitlich zurück, doch die Einnahmen in Europa sanken spürbar. Der Rückgang der aktiven Nutzerzahlen wirkt sich hier in Wechselwirkung mit der Werbeeinnahme aus, was die finanzielle Stabilität des Dienstes untergräbt. Dies spiegelt sich auch in den Unternehmensstrategien wider, da X 2025 an das KI-Unternehmen xAI verkauft wurde, das die Plattform für rund 45 Milliarden US-Dollar bewertete, einschließlich der Schuldenlast.
Die Einflussnahme von politischen und gesellschaftlichen Dynamiken auf die Plattform lässt sich ebenfalls nicht außer Acht lassen. Europa ist bekannt für seine strengeren Regulierungen und ein höheres Bewusstsein für Datenschutz und Verbreitung von Desinformationen als etwa in den USA. Die Erwartungen, die Nutzer an Transparenz, Sicherheit und die Wahrung demokratischer Werte stellen, stehen im Kontrast zu der entspannteren oder liberaleren Herangehensweise an Inhaltsfreiheit, wie sie Musk propagiert. Dies führt zu einem Konflikt, an dessen Ende viele europäische Nutzer entscheiden, sich von X abzuwenden. Die Auswirkungen der Nutzermigration sind vielfältig.
Für die Plattform selbst bedeutet der Rückgang in Europa Einbußen beim Einfluss und der Reichweite in einem wirtschaftlich wichtigen Markt. Für die Nutzer bedeutet dies eine Veränderung des sozialen Ökosystems, da Netzwerke schrumpfen und Kommunikationsbeziehungen neu geordnet werden müssen. Darüber hinaus wirkt sich der Rückgang auch auf politische Diskurse aus, da X eine Rolle als Meinungsforum näher an amerikanischem Stil einnimmt, das in Europa weniger Resonanz findet. Neben dem Social-Media-Sektor spüren auch andere Geschäftsbereiche von Elon Musk den europäischen Gegenwind. Tesla, beispielweise, verzeichnet in mehreren europäischen Märkten deutlich zurückgehende Verkaufszahlen.
Deutschland und Frankreich melden Rückgänge von bis zu 60 Prozent im ersten Quartal 2025 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Dieses Phänomen wird zum Teil auf die vergleichsweise veraltete Modellpalette von Tesla zurückgeführt, aber auch auf sich verändernde Kundenerwartungen, die Leistung, Diversität und Preisgestaltung betreffen. Insgesamt scheint sich ein Trend abzuzeichnen, bei dem europäische Verbraucher alternative Anbieter bevorzugen und kritischer gegenüber US-amerikanischen Konzernen agieren. Die künftige Entwicklung von X in Europa wird stark davon abhängen, ob es der Plattform gelingt, den Bedürfnissen der Nutzer wieder besser gerecht zu werden. Dies erfordert nicht nur eine potentielle Neuausrichtung der Moderationspolitik, sondern auch eine Anpassung an die kulturellen und gesellschaftlichen Erwartungen in einem stark regulierten und wertekonservativen Markt.
Gleichzeitig wächst der Wettbewerb durch aufstrebende Plattformen, die mit klaren Positionierungen punkten und Nutzer mit neuen Ideen gewinnen. Abschließend lässt sich sagen, dass der Rückgang der Nutzerzahlen bei X in Europa ein Zeichen für die komplexen Verflechtungen zwischen Technologie, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ist. Die Herausforderung besteht darin, eine Balance zwischen freier Meinungsäußerung und dem Schutz vor schädlichen Inhalten zu finden und gleichzeitig wirtschaftliche Erfolge zu erzielen. Der europäische Markt mit seinen speziellen Anforderungen stellt für X eine wichtige, aber auch schwierige Bühne dar, auf der künftige Erfolge entscheidend von der Anpassungsfähigkeit und Sensibilität für lokale Verhältnisse abhängen. Die Geschichte von X und seiner Nutzerentwicklung in Europa wird daher exemplarisch für viele digitale Plattformen stehen, die global agieren, aber lokale Unterschiede nicht vernachlässigen dürfen.
Der Ausgang dieses Prozesses wird maßgeblich die Landschaft sozialer Medien auf dem Kontinent mitprägen und Einblicke geben, wie sich die Beziehung zwischen Konzernen, Nutzern und Regulierungen weiterentwickelt.