China, ein Land, das offiziell atheistisch ist und den Marxismus-Leninismus als Staatsideologie vertritt, scheint derzeit Zeuge eines paradoxen Phänomens zu werden: einem regelrechten Boom des Aberglaubens und der Esoterik. Gerade in der Zeit nach der COVID-19-Pandemie hat sich eine neue Welle spiritueller und abergläubischer Praktiken entfaltet, die sich vor allem unter der jüngeren, gebildeten Bevölkerung ausbreitet. Diese Entwicklung ist mehr als ein bloßes Zurückbesinnen auf alte Traditionen oder ländliche Mystik. Es handelt sich vielmehr um einen massiven Markt, in dem Glücksbringer, Wahrsagungen und spirituelle Rituale in einer digital vernetzten Gesellschaft eine neue Bedeutung gewinnen. Dabei offenbaren sich tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen und psychosoziale Bedürfnisse, die mit den Herausforderungen der Gegenwart untrennbar verbunden sind.
Das wirtschaftliche Umfeld nach der Pandemie war von einer spürbaren Konsumflaute geprägt. Einkaufszentren und Restaurants, zuvor pulsierende Knotenpunkte urbanen Lebens, verzeichneten einen Rückgang der Besucherzahlen und Umsätze. Dies traf gerade die jüngere Generation, die traditionell als rational und zielorientiert galt. Doch gerade diese Gruppe suchte vermehrt nach günstigen Möglichkeiten, sich Hoffnung und Ablenkung zu verschaffen. Aus dieser Atmosphäre heraus entstand eine regelrechte „Lotterie-Euphorie“.
Die Verkaufszahlen von Rubbellosen stiegen sprunghaft an, obwohl der Wert pro Los gering war. Junge Menschen, darunter Studierende, Berufstätige und sogar Hochzeitspaare, entdeckten das Rubbellos als günstige Träumerei – ein kleiner Moment der Freude oder der Illusion auf einen Glücksgewinn, der besser schien als der Preis für Bubble Tea oder einen Streamingdienst. Die sozialen Medien trugen ihr Übriges bei: Geschichten über überraschende Gewinne gingen viral und verstärkten die Verlockung noch. Dieser Trend verdeutlicht eine tiefere psychologische Bedeutung. In einer Zeit, in der Zukunftsperspektiven unsicher sind und gesellschaftlicher Druck wächst, suchen viele nach einfachen Mitteln, den Alltag mit kleinen Glücksmomenten zu versüßen.
Das vermeintlich „günstige Tagträumen“ ist dabei nicht nur individueller Zeitvertreib, sondern entwickelt sich häufig zu einem sozialen Bindeglied. Gemeinsames Rubbellosen in der Mittagspause oder die Verteilung von Losen bei Feiern werden zu Ritualen moderner Gemeinschaft. Parallel dazu wächst der Markt für abergläubische Gegenstände enorm. Insbesondere Kristalle erleben einen regelrechten Hype. Sie werden nicht nur als modische Accessoires getragen, sondern als mystische Werkzeuge verkauft, die angeblich Glück, Wohlstand und die Abwehr negativer Energien bringen sollen.
Ganze Livestream-Formate widmen sich dem Thema, Influencer bringen dem Publikum die „Kunst der Kristalle“ näher und präsentieren die Steine als neuen Trend. Die Anzahl der Unternehmen, die sich auf Kristalle spezialisiert haben, ist beeindruckend und lässt erkennen, dass es hier um weit mehr als eine Nische geht. Neben Kristallen etablieren sich auch Wahrsagerei, Tarot und Astrologie als kleine, aber wachsende Geschäftsbereiche. Selbst Hochschulabsolventen und zivilgesellschaftliche Angestellte wagen den Schritt in die professionelle Esoterik, wechseln ihren Job und arbeiten nun als „Mystiker“ oder „emotionale Berater“. Auf bekannten Plattformen wie Taobao und WeChat florieren diese Angebote, die trotz staatlicher Zensur und Verboten einen Weg finden, ihre Kundschaft zu erreichen.
Interessanterweise geht der Gigant der Technologie nicht nur sprichwörtlich mit Spiritualität Hand in Hand, sondern schafft neue Formen davon. Der chinesische KI-Sprachmodell-Entwickler DeepSeek hat 2024 nicht nur für technologische Aufsehen gesorgt, sondern vor allem durch sein AI-gestütztes Wahrsagen. Es entstand eine Symbiose zwischen Künstlicher Intelligenz und Aberglaube, die in der Bevölkerung enormen Anklang findet. Von Gesichtserkennung über chinesische Astrologie bis hin zur Persönlichkeitsanalyse geben die digitalen Orakel Antworten, die viele als Therapie ersetzten – unabhängig von wissenschaftlichen Grundlagen. Streaming-Plattformen mit rund um die Uhr angebotenen Horoskopen ermöglichen einen konstanten Zugang zu spiritueller Unterhaltung.
Die dadurch entstehende „Spiritual-Commerce“-Schleife verbindet Online-Handel, Unterhaltung und das traditionsreiche Bedürfnis nach Lebenssinn auf unerwartete Weise. Doch hinter all dem Glanz und Glamour versteckt sich eine Schattenseite. Esoterische Online-Kurse und Zertifizierungen versprechen Karriere und Wohlstand im Bereich Kristalle, Tarot oder spiritueller Beratung, doch die Realität sieht oft anders aus. Zahlreiche Anbieter nehmen hohe Gebühren für Kurse, die selten zu den erwarteten Einkünften führen. Die Überproduktion an „Mystikern“ und „Heilern“ führt zu einem Preisverfall und einem Konkurrenzkampf, in dem viele scheitern.
Darunter leidet nicht nur die Seriosität der Branche, sondern auch individuelle wirtschaftliche Sicherheit. Einige Geschäftsmodelle gleichen klassischen Pyramidensystemen, bei denen Teilnehmer zum Einkauf und zur Anwerbung weiterer Kunden gedrängt werden. So werden wirtschaftliche Notlagen und psychologische Schwächen eiskalt ausgenutzt. Diese Dynamik spiegelt eine größere gesellschaftliche Realität wider. China steht vor ökonomischen Herausforderungen mit einem langsameren Wachstum und einem unsicheren Arbeitsmarkt.
Die junge Generation sieht sich mit enormem Leistungsdruck und Zukunftsangst konfrontiert. In einem System, das traditionellen Glauben offiziell ablehnt und ihn sogar bekämpft, entstehen Lücken – emotionale und existentielle Vakuums –, die der Aberglaubensmarkt geschickt füllt. Die Sicherheitsversprechen, die früher durch Religion oder ideologische Systeme vermittelt wurden, fehlen, sodass Menschen zunehmend nach „Quick Fixes“ suchen, die zumindest kurzfristig Halt geben. Die konsumorientierte „spirituelle Wirtschaft“ ist so eine Antwort auf diese Sehnsucht. Die chinesische Regierung bemüht sich zwar, durch Zensur und Regulierungen die Ausbreitung spiritueller und religiöser Inhalte einzudämmen, doch das Netz und die innovative Anpassungsfähigkeit von Anbietern machen das Unterfangen schwierig.
Spirituelle Berater etikettieren sich um, nutzen Ausland-Plattformen oder verschalten ihre Angebote mit digitalen, scheinbar wissenschaftlichen Begriffen. Die Begrifflichkeit ändert sich, doch das Grundbedürfnis bleibt. Die „Mystik“ von heute ist deshalb nicht nur althergebrachte Tradition, sondern auch ein Spiegelbild einer modernen Gesellschaft im Umbruch. Es sind neuartige Geschichten, Produkte und Erzählungen, die aus den Überbleibseln des Marktes geformt werden. Sie bedienen sich moderner Technologien genauso wie alter Symbole, um neue Formen von Sinn und Hoffnung zu vermitteln.
Dabei zeigt sich auch ein globaler Trend, bei dem Digitalisierung und Spiritualität miteinander verschmelzen, aber auch problematische Konflikte erzeugen. Der Aberglaubensboom in China stellt damit ein komplexes Phänomen dar, das weit über einfache Erklärungen hinausgeht. Er zeigt die tiefgreifenden Ängste und Hoffnungen einer Generation auf, die mit existenzieller Unsicherheit, einem schwierigen Arbeitsmarkt und dem Fehlen institutionalisierter Glaubensangebote ringt. Zugleich illustriert er, wie Unternehmen und technologische Entwicklungen diese Nachfrage in wirtschaftliche Bahnen lenken und dabei durchaus ambivalente Folgen mit sich bringen. Solange wirtschaftliche Unwägbarkeiten und gesellschaftliche Ängste anhalten, wird diese Welle von Esoterik und Aberglauben vermutlich nicht abebben.