Die Idee, mit dem Warum einer Organisation oder Gemeinschaft zu beginnen, wurde vor allem durch Simon Sinek in seinem berühmten TED Talk „Start with Why“ bekannt. Seine Kernaussage ist, dass Führungskräfte zunächst den Zweck ihrer Organisation klar kommunizieren sollten, um Menschen zu inspirieren und in Bewegung zu setzen. Doch wenn es um den Aufbau von Gemeinschaften geht, zeigt die Erfahrung, dass diese Sichtweise nicht immer greift. Stattdessen ist es das Wer – die Menschen, die eine Gemeinschaft prägen –, das im Mittelpunkt stehen sollte. Michel Bachmann, erfahrener Community-Builder und Forscher, beleuchtet in „Start with Who“ die essenzielle Rolle der Menschen bei der Entstehung und Pflege von Gemeinschaften.
Seine Erkenntnisse verändern den Blick auf klassische Konzepte der Organisationsentwicklung und geben wertvolle Impulse für alle, die eine Gemeinschaft aufbauen oder nachhaltig gestalten möchten. Die erfolgreichsten Gemeinschaften spiegeln häufig ihre Gründer und die von ihnen verkörperten Werte wider. In der Praxis bedeutet das, dass sich die Zusammensetzung der Mitglieder oft an den Personen ausrichtet, die den Anstoß zur Gründung gegeben haben. Ein Beispiel aus Bachmanns Erfahrung ist der Impact Hub in Berlin. Dort wurde versucht, eine vielfältige Community von Unternehmern, Kreativen und Weltverbesserern zu etablieren.
Am Ende setzte sich vor allem eine Gruppe von Coaches durch, was zu einer Diskrepanz zwischen Vision und Realität führte. Die Community löste sich auf, da die angestrebte Diversität nicht gelebt werden konnte. Ein wichtiger Erkenntnispunkt dabei ist, dass Menschen das anziehen, was sie selbst sind. Deswegen empfiehlt Bachmann für den Start einer Community eine kleine, handverlesene Gruppe, die eine Miniatur der gewünschten Gemeinschaft repräsentiert – gleichsam ein Samen, der alle zukünftigen Entwicklungen in sich trägt. Diese Kernmenschen bilden den sozialen Klebstoff der Gemeinschaft und geben ihr Identität.
Denn Menschen schließen sich nur selten allein wegen einer abstrakten Vision einer Gemeinschaft an. Vielmehr entscheiden sie sich für die Gemeinschaft, weil sie sich zu den Menschen darin hingezogen fühlen. Die Qualität menschlicher Beziehungen ist der entscheidende Faktor, der darüber bestimmt, ob eine Gemeinschaft Bestand hat oder zerfällt. Gemeinschaften mit großartigem Zweck, aber ohne intensive menschliche Verbindungen, scheitern häufig, da die emotionale Bindung fehlt. In der Praxis ist es wichtig, Orte und Formate zu schaffen, die diese Beziehungen fördern und vertiefen.
Ein gutes Beispiel ist die neuseeländische Gemeinschaft Enspiral, die durch jährliche Retreats reale Verbindungen zwischen den Mitgliedern schafft und damit das Fundament für nachhaltige Zusammenarbeit legt. Neben der Zusammensetzung der Mitglieder spielen gemeinsame Werte eine entscheidende Rolle für das Überleben einer Gemeinschaft. Während der Zweck einer Gemeinschaft sich im Lauf der Zeit verändern oder an neue Umstände angepasst werden kann, bieten Werte ein stabiles Fundament. Sie geben den Mitgliedern Orientierung, vor allem in schwierigen Zeiten. Werte definieren, wie miteinander umgegangen wird, und sie sind eine Art sozialer Vertrag, der das „Wie“ des Zusammenlebens prägt.
Das Beispiel Burning Man zeigt eindrücklich, dass Gemeinschaften nicht zwingend einen klaren Zweck oder eine greifbare Mission benötigen, um eine starke Identität zu besitzen. Vielmehr sind es die zehn Prinzipien der Veranstaltung, die jedem Teilnehmer die Verhaltensweisen und Einstellungen vermitteln, die erwartet werden. Diese Werte prägen das Gemeinschaftserlebnis viel stärker als ein Zweck oder eine Vision. Gleiches gilt für andere Gemeinschaften, die gemeinsame Werte in den Mittelpunkt stellen und damit ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Setzen von Grenzen.
Gemeinschaften stehen zwischen dem Wunsch nach Offenheit und Inklusivität einerseits und der Notwendigkeit von kohärenter Identität und Qualitätssicherung andererseits. In diesem Spannungsfeld hilft eine klare Definition des Wer. Wer gehört zur Gemeinschaft? Welche Kriterien müssen künftige Mitglieder erfüllen? Eine solche Selektion muss aber transparent sein und darf nicht exklusiv oder abweisend wirken, sondern vielmehr dem Schutz und Erhalt der Gemeinschaft dienen. Als Beispiel lässt sich die League of Intrapreneurs anführen, die bewusst nur Menschen akzeptiert, die von innen heraus Veränderung in großen Organisationen vorantreiben. Missachtung der gemeinsamen Werte wird nicht toleriert, um die Integrität der Gemeinschaft zu wahren.
Auch der globale Trend des Ecstatic Dance illustriert, wie Regeln klar kommuniziert und eingehalten werden, um den Raum für alle wertvoll und sicher zu halten. Die Erkenntnisse aus „Start with Who“ empfehlen eine Weiterentwicklung von Simon Sineks Goldenem Kreis, der ursprünglichen Vision von Why, How und What. Bachmann schlägt vor, den Kreis in eine Spirale zu verwandeln, in deren Zentrum das Wer steht. Von diesem Kern aus erstreckt sich die Gemeinschaft nach außen in eine dynamische Entwicklung von Zweck, Arbeitsweisen und Angeboten. Die Spirale verdeutlicht, dass der Aufbau einer Gemeinschaft kein geradliniger Prozess ist, sondern ständiges Nachjustieren und Vertiefen der Beziehungen, Werte und Ziele erfordert.
Während sich das Was und Wie relativ flexibel an veränderte äußere Bedingungen anpassen lässt, ist der Kern des Wer deutlich schwerer zu verändern – er steht für Identität und DNA der Gemeinschaft. Jede Veränderung hier ist mit tiefgreifenden Transformationsprozessen verbunden. Die Quintessenz dieser Erkenntnisse lautet: Gemeinschaften entstehen durch Menschen. Der Fokus auf das Wer ist die Grundlage, um eine lebendige, belastbare und nachhaltige Gemeinschaft zu schaffen. Gemeinschaften, die lange existieren und Wirkung entfalten, zeichnen sich durch starke menschliche Beziehungen, gemeinsame Werte und klare Grenzen aus.