Das Phänomen der terminalen Klarheit, bei dem Menschen kurz vor ihrem Tod einen unerwarteten und oft tiefgreifenden Moment der geistigen Klarheit erleben, stellt die Neurowissenschaft vor spannende und zugleich kontroverse Fragen. In vielen Fällen handelt es sich bei den Betroffenen um Personen mit schweren Hirnschäden oder Erkrankungen wie Alzheimer, die zuvor kaum noch Zeichen bewusster Wahrnehmung zeigten. Doch in den letzten Stunden oder Tagen vor ihrem Ableben scheinen sie sich plötzlich wieder lebendig, wach und mit der Umgebung verbunden zu zeigen. Diese sogenannten „Flashes of lucidity“ oder terminalen Klarheitsmomente berühren nicht nur die Erfahrungsberichte von Angehörigen und Pflegekräften, sondern sprechen auch grundsätzliche Fragen über die Natur des Bewusstseins an. Die Wissenschaft hat lange Schwierigkeiten gehabt, dieses Phänomen ernsthaft zu erforschen.
Die meisten Studien und Beobachtungen beruhen auf Einzelfallberichten von Menschen, die Zeugen solcher Momente wurden, was die Anwendung strenger wissenschaftlicher Kriterien wie Messbarkeit und Reproduzierbarkeit erschwert. Dennoch gewinnt die Thematik zunehmend an Aufmerksamkeit, nicht zuletzt durch die Arbeiten von Alexander Batthyány, Psychologe und Direktor des Viktor Frankl Instituts in Wien, der in seinem Buch „Threshold“ zahlreiche Berichte zusammengetragen und für eine vertiefte Erforschung des Phänomens plädiert. Batthyány und andere Forscher sehen in der terminalen Klarheit eine Herausforderung für die vorherrschende materialistische Sichtweise, wonach Bewusstsein ausschließlich als Produkt des Gehirns verstanden wird. Für sie ist die Annahme, dass bei stark beschädigtem Gehirn auch das Bewusstsein zwangsläufig erlischt, zu schematisch. Stattdessen schlagen sie vor, dass es neben dem biologischen Gehirnbewusstsein eine Art übergeordnetes, vielleicht sogar unabhängiges Bewusstsein geben könnte.
Dieses verborgen im Menschlichen ruhende, „ätherische“ Bewusstsein würde sich in den letzten Lebensmomenten kurzzeitig zeigen, bevor der Körper endgültig aufgibt. Solche Ideen sind nicht neu, aber sie erfahren durch die Berichte über Nahtoderfahrungen (Near-Death Experiences, NDEs) neuen Zulauf. Menschen berichten in diesen Grenzerfahrungen von einem Gefühl von Frieden, das Zurücklassen ihres Körpers, Begegnungen mit verstorbenen Verwandten und einem Licht am Ende eines Tunnels. Diese Erlebnisse führen häufig zu einer veränderten Lebenseinstellung, in der die Angst vor dem Tod schwindet oder gar Sehnsucht nach dem eigenen Ableben entsteht. Traditionell gelten Nahtoderfahrungen weithin als subjektive Hirnphänomene, hervorgerufen durch Sauerstoffmangel, neurochemische Veränderungen oder andere physiologische Prozesse in Krisensituationen.
Charlotte Martial und ihr Team von der Coma Science Group an der Universität Lüttich haben 2025 ein Modell vorgestellt, das versucht, Nahtoderfahrungen neurophysiologisch und evolutionspsychologisch zu erklären. Der sogenannte NEPTUNE-Ansatz beschreibt eine Reihe von neurochemischen Reaktionen, etwa erhöhte Ausschüttungen von Neurotransmittern wie Serotonin und Dopamin, die bei Sauerstoffmangel im Gehirn auftreten und spezifische Erlebnisqualitäten wie Ruhe, Ausgelassenheit oder außerkörperliche Erfahrungen induzieren können. Die Evolutionspsychologie liefert hier einen Rahmen, warum solche Erfahrungen als Bewältigungsmechanismen in Lebensbedrohlichen Situationen entstanden sein könnten. Diese Erklärungen stoßen jedoch auch auf Widerstand und Kritik. Viele Anhänger der dualistischen Sichtweise behaupten, dass solche physiologischen Prozesse das gesamte Spektrum der Bewusstseinsphänomene bei Nahtoderfahrungen und terminaler Klarheit nicht zufriedenstellend erklären.
Für sie ist Bewusstsein nicht einfach ein Nebenprodukt des Gehirns, sondern fundamentaler und teils unabhängig vom körperlichen Organ. Interessanterweise können ähnliche Erlebnisse wie bei NDEs durch Stimulation bestimmter Hirnareale oder den Konsum psychedelischer Substanzen ausgelöst werden. Auch bei kurzfristiger Bewusstlosigkeit, etwa bei Synkope, berichten Menschen bis zu 36 % über Nahtoderfahrungen mit typischen Merkmalen. Trotz zahlreicher Berichte und Bemühungen fehlt es bislang an harten wissenschaftlichen Beweisen, die eine der Hypothesen vollständig stützen könnten. Die Anwendung moderner bildgebender Verfahren wie EEG oder MRI hat gerade genug Informationen geliefert, um neurophysiologische Abläufe zu beobachten, bietet aber keine klaren Hinweise darauf, ob Bewusstsein unabhängig vom Gehirn existieren kann.
Projekt Luz in Barcelona ist eines von wenigen größeren Forschungsinitiativen, die NDEs und terminale Klarheit langfristig verfolgen wollen. Hier geht man der Frage nach, wie sich solche Erlebnisse auf Lebenssicht und Werte der Betroffenen auswirken. Die Untersuchungen zeigen vielfach, dass Überlebende von Herzstillstand solche Erfahrungen als transformativ beschreiben: Sie fühlen sich mit Liebe und Frieden erfüllt und gewinnen eine neue Perspektive auf das Leben und den Tod. Dabei betont Projektleiterin Luján Comas auch die Möglichkeit, dass Bewusstsein auch dann ohne messbare Hirnaktivität existieren könnte – eine These, die weit über die heutige Neurowissenschaft hinausgeht. Ein weiterer umstrittener Aspekt in der Debatte ist der Bezug zur Quantenphysik.
Manche Befürworter dualistischer Modelle versuchen, per Analogie zu quantenphysikalischen Phänomenen wie der Verschränkung eine „immaterielle“ Dimension des Bewusstseins theoretisch zu untermauern. Doch Experten wie Alberto Casas vom spanischen Nationalen Forschungsrat sehen hierin wissenschaftlich kaum haltbare Interpretationen. Die Größenordnungen und Prinzipien der Quantenmechanik lassen sich nicht ohne weiteres auf makroskopische Systeme wie das Gehirn übertragen und bieten demnach keine brauchbare Grundlage für eine Theorie des übergeordneten Bewusstseins. Die Faszination für terminale Klarheit und Nahtoderfahrungen liegt auch jenseits der Wissenschaft in ihrem emotionalen und existenziellen Wert. Gerade in einer säkularen Welt, in der religiöse und spirituelle Erklärungen zunehmend an Bedeutung verlieren, bieten diese Erlebnisse Trost und Hoffnung.
Sie beruhen weniger auf empirischer Evidenz als auf subjektiver Erfahrung und der tiefen menschlichen Sehnsucht nach einem Leben über den Tod hinaus. Insofern ist das Streben, solche Phänomene wissenschaftlich zu erfassen und zu verstehen, auch ein Ringen mit dem ethischen und spirituellen Bedürfnis nach Sinn. Während die Neurowissenschaften weiterhin versuchen, mit Hilfe von experimentellen Methoden und neurobiologischen Messungen Antworten zu finden, bleibt terminale Klarheit ein faszinierendes, größtenteils unerforschtes Phänomen. Es gewinnt mehr Aufmerksamkeit durch wissenschaftliche Offenheit und interdisziplinäre Zusammenarbeit, die mit Respekt vor den Erfahrungsberichten der Zeugen und einer kritischen Haltung gegenüber voreiligen Interpretationen einhergeht. Letztlich spiegelt die Debatte um terminale Klarheit die Grenzen unseres Wissens und unserer Vorstellungskraft wider.