Die Diskussion um Künstliche Intelligenz und Automatisierung ist in nahezu allen Branchen allgegenwärtig. Gerade im Bereich der Softwareentwicklung wird oft prognostiziert, dass Entwickler bald durch leistungsfähige KI-Modelle ersetzt werden könnten. Die Vorstellung, dass große Sprachmodelle (Large Language Models, LLMs) sämtliche Programmierarbeiten übernehmen und menschliche Entwickler überflüssig machen, ist verführerisch, doch die Realität ist wesentlich komplexer. Entwickler sind weit mehr als reine Code-Schreiber. Sie sind Hüter von implizitem Wissen, das sich durch Erfahrung und jahrelange Einbindung in Projekte und Unternehmensstrukturen aufgebaut hat.
Dieses Wissen kann eine KI nicht einfach imitieren oder übernehmen – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Softwareentwicklung ist kein linearer Prozess, der sich ausschließlich durch Code definieren lässt. Hinter jeder Zeile Programmcode verstecken sich Entscheidungshintergründe, Unternehmensprozesse, interne Absprachen und jahrelange Kompromisse. Entwickler kennen die Besonderheiten und Eigenheiten bestehender Systeme, oftmals geprägt durch unzählige kleine Anpassungen, Workarounds und temporäre Lösungen, die zur Stabilität der Infrastruktur beitragen. Sie wissen, welche Dokumentation veraltet ist oder welche Tools sich im Wandel befinden, beispielsweise wenn man gerade mitten in der Migration von Projektmanagementsystemen steckt, von Jira zu Notion oder Linear und wahrscheinlich bald wieder zurück zu Jira.
Künstliche Intelligenz hingegen hat keine Möglichkeit, diesen Kontext wirklich zu erfassen. Die Bedeutung dieses kontextuellen Wissens wird oft unterschätzt. Entwickler sind im Gespräch mit Kunden, verstehen, warum eine bestimmte Vendor-Lösung schon im Vorfeld ausgeschlossen wurde, oder wissen aus Erfahrung, dass ein langwieriger, zeitraubender Demo-Termin wenig Mehrwert bringt. Sie können erkennen, welche Slack-Threads oder Meeting-Protokolle tatsächlich die endgültigen Entscheidungen festhalten und welche lediglich Skizzen oder Ideen darstellen. Gerade solche scheinbar nebensächlichen Details entscheiden häufig über den Erfolg oder das Scheitern von Projekten.
Ein weiterer kaum zu ersetzender Faktor ist das Verständnis von „wackeligen“ technischen Abhängigkeiten. Zum Beispiel gibt es oft einen einzigen Server auf einem kleinen Cloud-Anbieter, der noch eine alte Cron-Job-Aufgabe ausführt und maßgeblich für den Datenfluss im Unternehmen ist. Dieses Wissen, dass das gesamte System quasi auf einem solch fragilen Fundament steht, wird nicht in der Dokumentation festgehalten und entgeht einer KI vollkommen. Entwickler wissen auch, dass selbst das einfache Neustarten eines Produktionsservers zu Problemen führen kann, wenn nicht ein bestimmtes Skript ausgeführt wird, um Firewall-Einstellungen wiederherzustellen. Diese informellen Erfahrungen sind entscheidend, um den Betrieb am Laufen zu halten.
Darüber hinaus ist nicht jede technische Entscheidung logisch oder nachvollziehbar. Entwickler kennen die Geschichte dahinter, zum Beispiel warum ein bestimmter Kennwert halbiert werden muss, bevor er als korrekt gilt – Details, die oft auf lang zurückliegenden Tests, Fehlern oder unvollständigem Wissen beruhen und nicht schriftlich dokumentiert sind. Auch spezielle Kundenanforderungen, die in Forks von Forks in einer separaten GitHub-Organisation gepflegt werden, setzen ein hohes Maß an organisationaler Erinnerung voraus, das sich meist nur bei den verantwortlichen Entwicklern findet. Ein anderes Beispiel ist der Umgang mit externen APIs, deren Funktionsweise teilweise nur durch Trial-and-Error bekannt ist. Entwickler wissen, dass eine API nur eine bestimmte maximale Anzahl von Seiten zurückgibt, sofern nicht ein besonderer Parameter übergeben wird.
Diese Art von implizitem Wissen wird nur durch jahrelange Arbeit und Erfahrung erlangt und kann nicht von einer KI aus öffentlich zugänglichen Dokumentationen extrahiert werden. Diese Details verdeutlichen, dass Entwickler weit mehr sind als reine Programmierer. Sie sind Archivare institutionellen Wissens, lebendige Dokumentationen, die jahrelangen Kompromisse und pragmatischen Entscheidungen festhalten. Menschliches Denken und Erfahrung schafft eine Beziehung zum System, die weit über den geschriebenen Code hinausgeht. Es ist dieses immaterielle Wissen, das oft über Erfolg und Misserfolg von Softwareprojekten entscheidet und das eine Künstliche Intelligenz noch lange nicht ersetzen kann.
Natürlich kann KI Entwicklern helfen und ihre Arbeit effizienter machen. Automatisierte Code-Generierung, Fehlerdiagnosen, Vorschläge zur Codeoptimierung oder die Unterstützung bei Routineaufgaben beschleunigen die Entwicklung erheblich. Doch KI gleicht eher einem übermotivierten Praktikanten, der zwar gute Ideen hat, aber das große Ganze noch nicht erfassen kann und gelegentlich völlig unangemessene Vorschläge macht. Die Realität ist, dass Entwickler und KI an einem Strang ziehen können, wenn beide Seiten ihre Stärken einbringen. KI unterstützt bei der Automatisierung und begleitenden Aufgaben, schafft Freiräume für kreative und komplexe Herausforderungen und ermöglicht es Entwicklern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Das menschliche Know-how bleibt aber unverzichtbar, um komplexe Systeme zu verstehen, kritische Kontexte zu erkennen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Ein wichtiger Punkt, der immer wieder zum Nachdenken anregt, ist das Thema Dokumentation. Obwohl viele Entwickler wissen, wie wertvoll eine umfassende und aktuelle Dokumentation für die langfristige Wartbarkeit von Systemen ist, wird dieses Ziel oft nicht ausreichend erreicht. Zeitdruck, wechselnde Anforderungen und der Fokus auf unmittelbare Ergebnisse sorgen dafür, dass Dokumentation häufig oberflächlich bleibt oder veraltet. Das erzeugt eine Abhängigkeit von erfahrenen Entwicklern, die sich das notwendige Wissen über Jahre hinweg erarbeitet haben.
Gerade diese „Messy Middle“ – die komplexe, teils chaotische Realität von internen Prozessen, Workflows und technischen Eigenheiten – bleibt häufig unsichtbar für KI-Systeme, die auf klar strukturierten Daten und explizitem Wissen beruhen. Solange diese Wissenslücken bestehen und diese Erfahrungen nicht vollständig schriftlich festgehalten sind, werden Entwickler unverzichtbar bleiben. Für Unternehmen bedeutet das, dass die Investition in den Erhalt und die Weitergabe solchen Erfahrungswissens von zentraler Bedeutung ist. Mentoring, enge Zusammenarbeit und das Fördern einer Kultur des Wissensaustauschs können helfen, das institutionelle Wissen über die Zeit zu bewahren, selbst wenn Teams sich verändern. Technologie allein kann diese menschlichen Verflechtungen nicht ersetzen.
Die Zukunft der Softwareentwicklung wird zweifellos von KI beeinflusst und transformiert werden, doch Menschen bleiben der Kern. Für Entwickler bedeutet das, dass ihre Rolle sich wandeln mag, aber niemals obsolet wird. Die Fähigkeit, Kontext zu verstehen, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und implizites Wissen anzuwenden, wird weiterhin entscheidend sein. Anlage in diese menschlichen Kompetenzen sichert langfristig nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch die Stabilität und Innovationskraft von Unternehmen. Schließlich lässt sich sagen, dass KI zwar eine potentielle Bereicherung für die Softwareentwicklung darstellt, aber nicht der Ersatz für menschliches Erfahrungswissen und organisatorisches Verständnis sein kann.
Die Kombination aus menschlichem Know-how und maschineller Unterstützung verspricht den größten Erfolg – nicht die eine oder andere Seite allein. Diese Erkenntnis ist eine Einladung, die Rolle der Entwickler neu zu denken: Weg von der Vorstellung des reinen Programmeurs hin zum unverzichtbaren Archivar und Problemlöser, der mit seinem Wissen und seiner Erfahrung die komplexen Systeme unserer digitalen Welt am Leben hält.