Die Geschichte der Eugenik und der Rassenanthropologie ist in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts tief verwoben mit diversen politischen Bewegungen, insbesondere mit nationalistischen und radikalen Gruppierungen. Im Kontext der ukrainischen nationalistischen Tradition spielt diese Verbindung eine bedeutende Rolle, die sich vor allem in der interwar-Zeit zwischen den beiden Weltkriegen sowie während und nach dem Zweiten Weltkrieg manifestiert. Im Folgenden wird diese komplexe Beziehung zwischen Wissenschaft, Ideologie und Politik dargestellt und dabei historische Persönlichkeiten, Organisationen und ideologische Strömungen beleuchtet. Die ukrainische nationale Bewegung während der Zwischenkriegszeit war geprägt von einem starken Streben nach staatlicher Eigenständigkeit.
Die Orte der Besiedlung von Ukrainern erstreckten sich über mehrere Staaten, darunter die Sowjetunion, Polen, Rumänien und die Tschechoslowakei. Diese transnationale Verteilung prägte nicht nur die politische Agenda, sondern auch die wissenschaftlichen und pseudo-wissenschaftlichen Debatten, insbesondere jene um Rasse, Identität und Biologie. Eugenik, ursprünglich als wissenschaftliche Bewegung konzipiert, die sich der Verbesserung von Bevölkerungen durch gezielte Selektion widmete, wurde in Ostmitteleuropa vielfach zu einem Instrument nationalistischer Ideologie. Ukrainische Nationalisten, insbesondere die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), adaptierten eugenische Theorien und verbanden sie mit rassentheoretischen Vorstellungen, um ihre Ziele eines ethnischen Nationalstaates zu untermauern. Die Auseinandersetzung mit Eugenik und Rassenanthropologie in der ukrainischen Tradition zeigt eine Spannung zwischen dem Wunsch nach ethnischer „Reinheit“ und den Herausforderungen durch die komplexe ethnische Zusammensetzung der Gebiete, die sie für einen ukrainischen Staat beanspruchten.
Die große Vielfalt an ethnischen Gruppen und die durchmischte Bevölkerung stellten eine Herausforderung dar, die durch rassentheoretische Konstruktionen zu lösen versucht wurde. Zentrale Figuren in diesem ideologischen und wissenschaftlichen Feld waren Persönlichkeiten wie Dmytro Dontsov, der als Vordenker eines radikalen ethnonationalistischen Denkens gilt. Dontsov verstand Geschichte als Kampf der „Herrenvolker“ gegen „niedere“ Völker und übernahm Konzepte aus dem Sozialdarwinismus und dem völkischen Denken. Er propagierte eine strenge Abgrenzung gegenüber ethnischen Minderheiten, besonders Juden, Polen und Russen, die er als Gegner oder minderwertige Gruppen definierte. Seine Vorstellungen von der „ukrainischen Rasse“ basierten auf Kategorien, die den sogenannten nordischen Typ als Ideal herausstellten, obwohl dieser in den ukrainischen Bevölkerungsschichten nur selten vorherrschend war.
An seine Ideen knüpften andere nationalistische Ideologen wie Rostyslav Iendyk an, der rassentheoretische Konzepte weiter popularisierte und eugenisch-biologische Argumentationen in den Dienst der nationalistischen Agenda stellte. Seine Werke empfahlen die Förderung „reiner“ ukrainischer Rassenmerkmale sowie eine strikte Ablehnung von Mischehen mit anderen Ethnien als Maßnahme zur Bewahrung und Stärkung der „ukrainischen Reinheit“. Ein weiterer bedeutender Akteur war Iurii Lypa, der als Arzt und Nationalist eugenische Praktiken in seiner politischen Philosophie stark betonte. Lypa forderte eine staatliche Kontrolle über das persönliche und sexuelle Leben der Bevölkerung mit dem Ziel, die „physische, geistige und moralische Gesundheit“ der Nation zu fördern. Die Idee des Staates als für die genetische und kulturelle „Reinhaltung“ zuständige Instanz, die aktive Eingriffe vornimmt, wurde in den Konzepten der OUN-Vordenker zunehmend sichtbar.
Die praktische Umsetzung dieser Ideologien zeigte sich in den radikalen Programmen und politischen Strategien der OUN, insbesondere der zweiten Generation um Stepan Bandera und Iaroslav Stets’ko. Deren politische Doktrinen enthielten eine klare Ablehnung von ethnischer Mischehe und eine aggressive Haltung gegen Minderheiten, die als „feindlich“ oder „gefährdend“ für das ukrainische Volk beschrieben wurden. Der historische Höhepunkt dieser Entwicklung war die 1941 von der OUN(B) ausgerufene kurzlebige ukrainische Staatsgründung in Lwiw, begleitet von einer geplanten Einführung eines nationalen Eugenik-Programms. Dieses Projekt sah die Errichtung einer staatlichen Einrichtung zur Überwachung und Regulierung der „Volksgesundheit“ vor, einschließlich der Kontrolle von Eheschließungen im Sinne der Rassereinheit. Die gleichzeitigen anti-jüdischen Pogrome nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion wurden von OUN-Mitgliedern nicht nur toleriert, sondern teilweise aktiv gefördert.
Die Vernetzung der ukrainischen Nationalisten mit den faschistischen Bewegungen Europas und insbesondere mit den rassistischen Ideologien des Nationalsozialismus beeinflusste die radikale Zuspitzung der eugenischen und rassentheoretischen Vorstellungen. Die Übernahme von Konzepten wie „Blut und Boden“ und die Verherrlichung des „nordischen Typs“ zeigen die ideologische Nähe und den Austausch zwischen ukrainischen Nationalisten und NS-Ideologen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich diese Rassen- und Eugenikdiskussion in der ukrainischen Diaspora fort, da viele Nationalisten im Westen im Exil lebten. Organisationen wie die Anti-Bolschewistische Block der Nationen griffen die nationalistischen Ideen und ihr biopolitisches Denken auf, passten sie aber vielfach den neuen geopolitischen Konstellationen im Kalten Krieg an. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Rasse und Eugenik in der Ukraine wurde auch von akademischen Persönlichkeiten wie Theodosius Dobzhansky geprägt, einem Genetiker ukrainischer Herkunft, der sich für eine wissenschaftlich fundierte Betrachtung von menschlicher Variation einsetzte.
Dobzhansky wandte sich vehement gegen rassistische Ideologien, sah jedoch die Existenz von Menschenrassen als biologisches Konzept, allerdings innerhalb einer dynamischen und fließenden Population. Im Spannungsfeld zwischen akademischer Forschung und ideologischer Instrumentalisierung ist die ukrainische nationalistische Eugenik ein Beispiel dafür, wie wissenschaftliche Erkenntnisse für politische Zwecke genutzt, verzerrt und mit gefährlichen nationalistischen und rassistischen Ideen vermischt werden können. Die Erforschung dieses Themas zeigt nicht nur die Bedeutung von Eugenik und Rassenlehren für die radikale ukrainische Nationalbewegung, sondern auch die Kontinuitäten und Transformationen dieser Ideen bis in die Nachkriegszeit und in die Diaspora. Gleichzeitig weist diese Geschichte auf die Risiken hin, die von der Vermischung von Biologie, Politik und Ideologie ausgehen, und regt zu einer kritischen Reflexion über die Rolle der Wissenschaft in gesellschaftlichen und politischen Kontexten an. Damit bietet die Analyse von Eugenik und Rassenanthropologie in der ukrainischen nationalistischen Tradition einen wichtigen Beitrag zum Verständnis nicht nur der ukrainischen Geschichte des 20.
Jahrhunderts, sondern auch der breiteren europäischen und globalen Entwicklungen, bei denen Wissenschaft, Identität und Politik untrennbar miteinander verbunden waren und sind.