Seit der Gründung des israelischen Staates vor 75 Jahren prägt ein komplexes Geflecht aus politischen, gesellschaftlichen und religiösen Faktoren das Verhältnis zu den palästinensischen Nachbarn. Während häufig einzelne politische Figuren wie Benjamin Netanyahu für die jüngsten Eskalationen verantwortlich gemacht werden, offenbart ein genauerer Blick auf Umfragen, historische Entwicklungen und politische Diskurse ein viel tiefer liegendes Problem: Eine kollektive gesellschaftliche Haltung, die eine zunehmende Entmenschlichung und feindliche Einstellung gegenüber den Palästinensern normalisiert hat. Diese Haltung ist nicht das Werk eines Einzelnen, sondern das Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses, in dessen Zentrum das Ziel steht, die palästinensische Präsenz im besetzten Gebiet zu erreichen und letztlich auszulöschen. Grundlegend für das Verständnis dieser Dynamik ist die settler-koloniale Logik, die Israel seit seiner Staatsgründung prägt. Der israelische Staat entstand unter Umständen, die die Vertreibung und Entrechtung der indigenen palästinensischen Bevölkerung beinhalteten.
Diese Geschichte ist nicht eine bloße Fußnote, sondern wirkt sich bis heute auf die gesellschaftlichen Werte und politischen Entscheidungen aus. Aktuelle Umfragen zeigen alarmierende Zahlen: Eine Mehrheit israelischer Bürger unterstützt gewaltsame Maßnahmen gegen Palästinenser, darunter vertiefte Vertreibungen und sogar die Anwendung biblisch inspirierter Gewaltvorstellungen, die im Kontext des Konflikts als Rechtfertigung für militärische Aktionen genutzt werden. Diese Zahlen sind weder isolierte Ausrutscher noch das Ergebnis radikaler Minderheiten. Sie spiegeln eine verbreitete Einstellung wider, die sich quer durch unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zieht. Selbst bei säkularen Juden, die oft als liberal gelten, herrscht eine starke Zustimmung zu ethnischen Säuberungen vor, während bei religiösen Bevölkerungsgruppen die Zustimmung erschreckend noch höher ist.
Die Vorstellung, dass Palästinenser als eine Art biblischer Feind dargestellt werden, dem gegenüber sogar die Vernichtung als gottgegeben gilt, hat eine verstörende Verbreitung gefunden. Diese theologische Legitimation von Gewalt steht nicht am Rand der Gesellschaft, sondern bildet einen wesentlichen Bestandteil des ideologischen Fundaments, auf dem ein Teil der israelischen Gesellschaft aufbaut. Die Dehumanisierung der palästinensischen Bevölkerung ist ein zentraler Mechanismus, der diese gesellschaftlichen Einstellungen ermöglicht und festigt. Medien, Bildung und militärische Erfahrung prägen junge Israelis bereits seit Jahrzehnten in einer Weise, die Feindbilder und der Ausschaltung von Empathie Vorschub leisten. Eine so tiefgreifende Prägung, die das Unrecht als notwendig oder sogar gerecht erscheinen lässt, erschwert es einer Gesellschaft, ihre moralische Verantwortung anzuerkennen und entsprechend zu handeln.
Darüber hinaus zeigt die kritische Auseinandersetzung mit der Rolle westlicher Staaten und ihrer politischen Führung ein klares Bild von Komplizenschaft. Trotz der wachsenden humanitären Krise, geprägt von Todesfällen durch Hunger, Blockaden und eine nahezu vollständige Isolierung des Gazastreifens, bleibt die internationale Reaktion oft verhalten oder verschleiert ihre eigentliche Position hinter diplomatischen Floskeln. Die Lieferung von Waffen und die politische Rückendeckung für israelische Maßnahmen werden häufig weitergeführt, während gleichzeitig moralische Bedenken geäußert werden – eine Haltung, die die Eskalation eher befördert als eindämmt. Die wachsende Zahl an zivilen Opfern im Gaza-Streifen, vor allem Kinder, verweist auf das brutale Ausmaß der humanitären Katastrophe. Diese Tragödie entsteht nicht in einem Vakuum, sondern als direkte Folge der jahrzehntelangen politischen Strategien, die auf Kontrolle, territoriale Expansion und ethnische Säuberung abzielen.
Die Blockade, die systematische Einschränkung von Hilfslieferungen und die wiederholten militärischen Angriffe unterstreichen eine Strategie, die Gewalt als Mittel der Politik nicht nur akzeptiert, sondern institutionalisiert hat. Diese Realität aufzubrechen erfordert eine Auseinandersetzung mit den tief verwurzelten sozialen und politischen Strukturen Israels sowie eine kritische Hinterfragung der Rolle der internationalen Gemeinschaft. Es reicht nicht, allein einzelne Politiker zu benennen oder Schuldzuweisungen an Führungspersönlichkeiten festzumachen. Vielmehr muss ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel stattfinden, der die grundlegende Perspektive auf die palästinensische Bevölkerung wandelt und wieder menschliche Werte in den Mittelpunkt rückt. Die politische Instrumentalisierung religiöser Narrative, die historische Verdrängung palästinensischer Identitäten und die Normalisierung von Gewaltbasierter Politik gegenüber einer ganzen Bevölkerungsgruppe kennzeichnen das heutige israelische Gesellschaftsbild.
Das führt nicht nur zu einer Eskalation der Gewalt, sondern droht auch langfristig, demokratische Werte und internationale Rechtsnormen vollständig zu untergraben. Die Debatte um Israel und Palästina ist somit weit mehr als ein Konflikt um Territorien oder politische Macht. Es handelt sich um eine existentielle Auseinandersetzung mit Fragen von Menschlichkeit, Gerechtigkeit und kollektiver Verantwortung. Die internationale Gemeinschaft steht vor der Herausforderung, ihren Einfluss zu nutzen, um eine Wendung in dieser toxischen Dynamik herbeizuführen und nicht länger in Schweigen und Komplizenschaft zu verharren. Eine Anerkennung der palästinensischen Menschlichkeit, die Aufarbeitung und das Ende der settler-kolonialen Strukturen sowie eine gerechtigkeitsorientierte Lösung des Konflikts sind essenziell, um das Risiko eines noch tieferen kulturellen und politischen Abgrundes zu verringern.
Nur so kann sichergestellt werden, dass nicht erneut eine Generation in Feindschaft und Gewalt aufwächst, sondern Raum für Verständigung, Frieden und Anerkennung entsteht. Diese Herausforderung ist komplex, doch die Geschichte lehrt uns, dass Gesellschaften nur dann einen nachhaltigen Wandel vollziehen können, wenn sie sich offen ihren fundamentalen moralischen Verfehlungen stellen und mutige Entscheidungen treffen. Die Zeit für Ausreden ist vorbei – es braucht Engagement, Wachsamkeit und einen unbedingten Willen zur Veränderung.