Im Jahr 79 nach Christus ereignete sich eine der verheerendsten Naturkatastrophen der Antike – der Ausbruch des Vesuvs zerstörte die Städte Pompeji und Herculaneum, begrub sie unter einer dicken Ascheschicht und bewahrte so, unfreiwillig, zahlreiche Zeugnisse der damaligen Zeit. Unter den Artefakten, die bei Ausgrabungen zutage traten, fanden sich hunderte von Papyrusrollen in der Bibliothek einer wohlhabenden römischen Villa. Diese antiken Schriftstücke sind aufgrund des intensiven Feuers, das sie bei der Katastrophe erfasste, jedoch stark verkohlt und äußerst fragil. Durch die Jahrhunderte hindurch blieb das innere Wissen dieser Dokumente daher weitestgehend unzugänglich – bis vor Kurzem eine revolutionäre Methode ihren Inhalt erstmals sichtbar machte.Die Kombination aus hochauflösender Röntgentechnologie und fortschrittlicher Computertomographie hat es Forschern ermöglicht, eine der sogenannten Herculaneum-Rollen virtuell zu entrollen und den Text sichtbar zu machen, ohne die Schriftrolle physisch zu berühren.
Dies ist eine enorme Errungenschaft in der klassischen Archäologie und Papyrologie, denn die Vergangenheit wurde dadurch wortwörtlich aufgedeckt. Eine der spannendsten Enthüllungen ist die Identifizierung des Autors der Rolle: der griechische Philosoph Philodem von Gadara, ein Vertreter der Epikureischen Philosophie, der im 1. Jahrhundert vor Christus lebte.Die Rolle stammt aus einer Sammlung, die vermutlich Julius Caesars Schwiegervater gehörte und sich in einer luxuriösen Villa in Herculaneum befand. Als der Vesuv ausbrach und die Region unter einer dicken Schicht aus Asche und Bimsstein begrub, wurde die Bibliothek eingeschlossen und bewahrt.
Die beschädigten Papyri gelten seit Jahrhunderten als eines der größten ungelösten Rätsel der klassischen Welt. Ihr zerbrechlicher Zustand und die Tatsache, dass sie beim Versuch der Öffnung in der Vergangenheit oftmals zerfielen, haben die Lesbarkeit stark eingeschränkt.Die Röntgenuntersuchungen offenbarten halbtransparente Schriftzüge, die durch chemische Zusammensetzung des antiken Tintenmaterials im Kontrast zum verkohlten Hintergrund detailliert sichtbar wurden. Die Wissenschaftler konnten Wörter identifizieren, die zuvor vollkommen unbekannt waren, darunter den Titel „Über die Laster“ (griechisch „Peri Kamtion“). Dies ist ein wichtiger Text Philodems, der sich mit ethischen und moralischen Themen auseinandersetzt, typisch für seine epikureischen Lehren.
Insbesondere wurden das griechische Wort für „Ekel“ an mehreren Stellen entdeckt, was die Philosophie des Textes verdeutlicht.Diese Errungenschaft wurde durch einen internationalen Wettbewerb namens „Vesuvius Challenge“ beschleunigt, der 2023 ins Leben gerufen wurde. Ziel ist es, die schwierigen technischen Herausforderungen bei der Entzifferung der Herculaneum-Rollen mithilfe modernster Technologien wie künstlicher Intelligenz, computergestützter Bildanalyse und hochfrequenter Synchrotron-Röntgenstrahlung zu bewältigen. Im vergangenen Jahr entwickelten talentierte Studenten eine Software, mit der tausende griechischer Buchstaben entziffert werden konnten, was schon damals großen medialen Widerhall fand. Die heute bekannt gegebene Studie über die PHerc.
172 genannte Rolle ist ein weiterer Meilenstein dieses Vorhabens.Für die Forscher ist dies jedoch erst der Anfang. Die vielen weiteren Rollen, von denen aktuell über 40 in hochmodernen Synchrotron-Einrichtungen in Europa gescannt und analysiert werden, enthalten vermutlich ebenso bislang unbekannte Texte, philosophische Abhandlungen und literarische Werke der Antike. Die Herausforderung besteht derzeit darin, die umfangreichen 3D-Datenmengen in eine verständliche Form zu bringen, Textstellen klar zu strukturieren und letztlich den gesamten Wortlaut rekonstruktiv lesbar zu machen. Experten an Universitäten in Oxford, London, Würzburg und Kentucky kooperieren hier intensiv.
Die Bedeutung der Entdeckung liegt nicht nur in der Wiederentdeckung bislang unbekannter Texte, sondern auch in der Einsicht, welche Philosophie und Ideale in der römischen Oberschicht jener Zeit kursierten. Philodem war ein bedeutender Denker, der insbesondere die ethischen Ansichten der Epikureer verbreitete – eine Schule, die das Streben nach Glück und die Vermeidung von Schmerz zum Ziel hatte. Die detaillierte Kenntnis seiner Werke bereichert das Verständnis antiker Weltanschauungen und liefert wertvolle Quellen für Historiker, Philosophen und Sprachwissenschaftler.Zudem zeigt die technische Leistung exemplarisch, wie Digitalisierung, bildgebende Verfahren und künstliche Intelligenz die Archäologie revolutionieren können. Jenseits des Vesuv-Falls lassen sich ähnliche Techniken auf andere beschädigte Manuskripte und kulturelle Schätze anwenden, die bislang unrettbar verloren schienen.
Dies eröffnet neue Perspektiven auf das Kulturerbe der Menschheit und fördert einen interdisziplinären Ansatz zwischen Geisteswissenschaften und Technologie.Insgesamt liefert die Entzifferung der Vesuv-Rolle von Philodem neue Einblicke in eine Welt, die beinahe für immer unter der Asche begraben geblieben wäre. Es ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie moderne Forschung alte Geheimnisse lüften kann. Die Faszination für diese antiken Texte wird angesichts der kommenden Ergebnisse sicher weiter wachsen – und möglicherweise bald weitere Schätze aus der Vergangenheit ans Licht bringen.