In den letzten Jahrzehnten hat die Zahl der Diagnosen von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Autismus-Spektrum-Störung (ASD) weltweit deutlich zugenommen. Diese Entwicklung hat das wissenschaftliche Interesse an den Ursachen, Mechanismen und möglichen Einflussfaktoren dieser komplexen neuroentwicklungsbedingten Störungen nachhaltig gesteigert. Neben genetischen Ursachen rücken dabei zunehmend Umweltfaktoren in den Fokus der Forschung. Aktuelle Studien legen nahe, dass Umweltgifte wie bisphenol A (BPA), ein weit verbreiteter Kunststoffzusatzstoff, bei Kindern mit ADHS und Autismus eine besondere Rolle spielen könnten – insbesondere im Hinblick auf eine verminderte Fähigkeit, diese Schadstoffe abzubauen und auszuscheiden.Bisphenol A wird seit Jahrzehnten in der Herstellung von Kunststoffen eingesetzt und ist in zahlreichen Alltagsgegenständen enthalten – von Lebensmittelverpackungen und Trinkflaschen bis hin zu der inneren Beschichtung von Konservendosen.
Trotz seiner weiten Verbreitung wurde BPA aufgrund seiner hormonell wirksamen Eigenschaften mehrfach kritisch bewertet. Mittlerweile liegen zahlreiche Studien vor, die BPA als sogenannten endokrinen Disruptor einstufen, der das Hormonsystem stören kann. Neben hormonellen Auswirkungen steht BPA auch im Verdacht, die Entstehung bestimmter Krebsarten und Fortpflanzungsstörungen zu beeinflussen.Ein neuer Forschungsansatz, der im Jahr 2023 von Wissenschaftlern der Rowan University und der Rutgers University in den Vereinigten Staaten vorgestellt wurde, bringt die Rolle von BPA im Zusammenhang mit ADHS und Autismus erneut ins Gespräch. Die Studie untersuchte die Fähigkeit von Kindern, die Umweltgifte BPA und Diethylhexylphthalat (DEHP) aus dem Körper auszuscheiden – ein Prozess, der vor allem über die sogenannte Glucuronidierung abläuft.
Diese biochemische Reaktion ermöglicht es dem Körper, wasserunlösliche Schadstoffe in wasserlösliche Formen umzuwandeln, die dann über den Urin ausgeschieden werden können.Die Forscher analysierten drei Gruppen von Kindern: eine Kontrollgruppe neurotypischer Kinder, eine Gruppe mit diagnostiziertem Autismus und eine Gruppe mit ADHS. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass Kinder mit ADHS und Autismus eine signifikant geringere Effizienz bei der Ausscheidung von BPA aufwiesen. Während die „Glucuronidierungs“-Effizienz bei Kindern mit Autismus um etwa elf Prozent und bei Kindern mit ADHS sogar um siebzehn Prozent niedriger war als bei den neurotypischen Kindern, blieb die Ausscheidung von DEHP ebenfalls eingeschränkt, wenn auch nicht statistisch signifikant. Diese beeinträchtigte Detoxifikation bedeutet, dass Kinder mit diesen neuroentwicklungsbedingten Störungen länger einer potenziell toxischen Belastung durch BPA ausgesetzt sind.
Besonders belastend ist diese Erkenntnis vor dem Hintergrund der möglichen Auswirkungen von BPA auf die neuronale Entwicklung. Da BPA hormonell wirksam ist und in den Entwicklungsphasen des Gehirns stören kann, liegt die Annahme nahe, dass eine verlängerte oder verstärkte Exposition gegenüber BPA bei Kindern mit ADHS oder Autismus zusätzliche negative Effekte haben könnte. Die Forscher vermuten, dass genetische Faktoren eine zentrale Rolle spielen: Mutationen in Genen, die an der Phase-II-Metabolisierung von Schadstoffen beteiligt sind, könnten die Fähigkeit zur BPA-Ausscheidung vermindern – und damit eine erhöhte Toxizität fördern.Diese Forschung verbindet genetische und umweltbedingte Risiken, die beide für die Entstehung von neuroentwicklungsbedingten Erkrankungen wie ADHS und Autismus in Betracht gezogen werden. Es handelt sich dabei jedoch nicht um die alleinige Ursache, sondern um einen Teil eines komplexen Puzzles, das zahlreiche biologische und äußere Faktoren umfasst.
Interessant ist, dass nicht alle Kinder mit diesen Erkrankungen Probleme bei der BPA-Ausscheidung zeigten, was die Heterogenität der Störungen und die multifaktorielle Natur ihrer Ursachen unterstreicht.Darüber hinaus stellen sich weitere unbeantwortete Fragen bezüglich des zeitlichen Verlaufs. So ist unklar, ob die Umweltgifte bereits im Mutterleib oder erst im Verlauf der frühen Kindheit eine Rolle spielen, und inwieweit frühe oder spätere Expositionen zur Entstehung der Erkrankungen beitragen. Die Studie verdeutlicht somit die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen, die longitudinale Verläufe erfassen und genetische Unterschiede stärker berücksichtigen.Neben BPA sind insbesondere Kunststoffweichmacher wie DEHP von Interesse, die ebenfalls hormonell wirksam sind und in vielerlei Produkten enthalten sein können.
Obwohl die aktuelle Studie bei DEHP keine statistisch signifikanten Unterschiede in der Ausscheidungsfähigkeit fand, sollte dessen potenzieller Einfluss weiterhin kritisch beobachtet werden, da andere Studien ebenfalls auf negative Auswirkungen von Weichmachern auf die neurologische Entwicklung hinweisen.Die gesellschaftliche Relevanz dieser Forschung ist groß, denn sie weist deutlich auf die mögliche Anfälligkeit vulnerabler Kindergruppen für Umweltgifte hin und eröffnet neue Perspektiven zum Schutz und zur Förderung der Gesundheit betroffener Kinder. Eltern, Pädagogen und Ärzte sollten sich der erweiterten Risiken bewusst sein und mögliche Umweltbelastungen so gering wie möglich halten, bis weitergehende Forschung Klarheit schafft. Dazu gehört vor allem die Reduzierung des Kontakts mit BPA-haltigen Produkten sowie ein bewusster Umgang mit Kunststoffverpackungen, insbesondere bei Kindern mit ADHS oder Autismus.Die gesundheitlichen Risiken, die von BPA ausgehen, gewinnen durch die Beobachtungen, dass betroffene Kinder Schwierigkeiten haben, diesen Stoff effektiv zu eliminieren, eine zusätzliche Dimension.
Vor allem, wenn man bedenkt, dass neurotrophe Substanzen wie BPA durch ihre Fähigkeit, hormonale Signalwege zu beeinflussen, nicht nur kurzzeitig, sondern auch langfristig neuronale Entwicklung, Kommunikation und Verhalten beeinflussen können.Dieses Forschungsfeld steht noch ganz am Anfang, doch die Erkenntnisse veranschaulichen eine wichtige Schnittstelle zwischen Umwelttoxikologie und Neurowissenschaften. Die Möglichkeit, genetische Faktoren mit Umweltfaktoren wie BPA-Exposition zu verknüpfen, schafft einen differenzierten Zugang, der über einfache Ursache-Wirkungs-Modelle hinausgeht. Dadurch entstehen nicht nur neue therapeutische und präventive Ansätze, sondern auch die Chance, Umweltgestaltungen zum Wohle der Gesundheit potentiell anfälliger Bevölkerungsgruppen weiter zu verbessern.Im Kern spiegeln diese Entwicklungen die zunehmende Sichtweise wider, dass neuroentwicklungsbedingte Störungen nicht isoliert betrachtet werden können.
Sie entstehen vielmehr im komplexen Zusammenspiel genetischer Veranlagungen und lebensweltlicher Umwelteinflüsse. Dementsprechend wird die integrative Betrachtung dieser Faktoren zu einer zentralen Herausforderung für zukünftige Forschung und klinische Praxis.Abschließend ist es wichtig zu betonen, dass BPA zwar ein bedeutender Umweltfaktor darstellt, jedoch nicht für alle Fälle von ADHS oder Autismus verantwortlich gemacht werden kann. Vielmehr sollte diese Erkenntnis als Impuls verstanden werden, intensiver an der Schnittstelle von Genetik, Umwelt und neurobiologischer Entwicklung zu forschen und bislang vernachlässigte Umwelteinflüsse systematisch einzubeziehen.Angesichts der breiten Verwendung von BPA und ähnlichen Plastikadditiven gilt es, vor allem im Sinne von Kindern mit erhöhtem Risiko wie bei ADHS und Autismus die privaten und öffentlichen Strategien zur Schadstoffvermeidung zu überdenken und weiterzuentwickeln.
Die Wissenschaft befindet sich hier auf einem Weg, der nicht nur das Verständnis neuroentwicklungsbedingter Erkrankungen vertieft, sondern auch gesellschaftliche Schutzmaßnahmen informierter, präziser und wirksamer gestaltet.