Die Wahl eines Dogen von Venedig war nie eine einfache oder schnelle Angelegenheit. Über fünf Jahrhunderte hinweg, von 1268 bis zum Ende der Republik im 18. Jahrhundert, vollzog sich ein Wahlprozess, der gleichermaßen komplex, ausgeklügelt und beinahe ritualisiert war. Der Doge, der oberste Herrscher und Repräsentant der Stadt, wurde nicht durch einfache Mehrheitsentscheidungen bestimmt, sondern durch ein fein abgestimmtes System von Losverfahren und Wahlgremien, das Korruption und Machtmissbrauch verhindern sollte und die Interessen der adligen Familien Venedigs in Balance brachte. Dieses System, das zeitgenössisch als „tortuos, lächerlich und tiefgründig“ beschrieben wurde, war eines der aufwändigsten Wahlverfahren der Geschichte und erzählt viel über die politische Kultur und Gesellschaft Venedigs.
Das Procedere begann mit einem beinahe symbolischen Akt: Wann immer ein neuer Doge gewählt werden musste, begab sich ein offizieller Vertreter in die Basilika San Marco, um dort zu beten – ein Sinnbild für die göttliche Legitimation der Wahl. Anschließend nahm er den „Ballot Boy“, den nächsten Jungen, den er auf dem Markusplatz fand, mit zum Dogenpalast. Diese jugendliche Figur spielte eine zentrale Rolle bei der Losziehung, die den ersten Schritt zur Zusammenstellung des Wahlgremiums aus den führenden Familien der Stadt markierte. Die elfstufige Prozedur war geprägt von Abfolgen von Losziehungen und Wahlentscheidungen, die sicherstellen sollten, dass keine Familie oder Fraktion zu viel Einfluss gewinnen konnte. Anfänglich wurden dreißig Mitglieder des Großen Rates, der mächtigen Versammlung der venezianischen Adeligen, per Los ausgewählt.
Diese 30 wurden wiederum per Los auf neun reduziert, welche dann vierzig Kandidaten für den Dogensitz nominierten. Jeder dieser Kandidaten benötigte die Zustimmung von mindestens sieben der neun Wahlmänner, um weiterzukommen. Aus diesen 40 wurden per Los zwölf ausgewählt, die nun insgesamt 25 Kandidaten vorschlugen, von denen mindestens neun die notwendige Zustimmung brauchten. Die Kandidaten wurden im weiteren Verlauf erneut durch Los auf neun reduziert. Diese wiederum wählten 45 neue Wahlmänner, die jeweils mindestens sieben Stimmen benötigten.
Der Prozess wurde nochmals durch Losziehungen und Wahlen fortgesetzt: 45 wurden auf 11 reduziert, die schließlich 41 Mitglieder bestimmten, die in einem mehrstufigen Votum den neuen Doge auswählten. Um gewählt zu werden, brauchte ein Kandidat mindestens 25 von 41 Stimmen – ein Quorum, das weder eine einfache Mehrheit noch eine Zweidrittelmehrheit darstellte und somit eine breite Zustimmung in der venezianischen Elite garantieren sollte. Diese komplexe Verflechtung von Losentscheidungen und Wahlen wird oft unterschätzt, ist jedoch Ausdruck der einzigartigen politischen Kultur Venedigs, die sich vehement von anderen europäischen Monarchien und Republiken unterschied. Hinter dieser Prozedur steckte die Sorge, dass Machtkonzentration und Nepotismus das fragile politische Gleichgewicht gefährden könnten. Die Integration von Zufall durch Losverfahren sollte sicherstellen, dass der Einfluss einzelner Familien begrenzt und willkürliche Machtausübung verhindert wird.
Gleichzeitig bot das System jedoch ebenso Raum für strategisches Kalkül, politische Verhandlungen und subtile Machtspiele zwischen den Adelsgeschlechtern. Die Bedeutung des Dogen war dabei nicht nur formalpolitisch, sondern auch symbolisch enorm. Der Doge war Gesicht und Stimme der Serenissima an der Adria, im Mittelmeer und gegenüber anderen Mächten. Seine Wahl hatte somit auch immense außenpolitische Bedeutung und war Ausdruck der Stabilität und Kontinuität des Venezianischen Systems. Die Zeremonien und Rituale rund um die Wahl und Krönung, die im Dogenpalast und auf dem Markusplatz zelebriert wurden, stärkten die Legitimität und Akzeptanz seiner Herrschaft und banden die venezianische Bevölkerung ebenso mit ein.
Das Bild des Dogen, der nach seiner Wahl durch die Plätze getragen wurde und Goldmünzen in die Menge warf – eine Tradition, die auf Doge Sebastiano Ziani aus dem Jahr 1172 zurückgeht – illustriert die Verbindung zwischen Herrschaft und Volkszuwendung. Diese Praxis unterstrich nicht nur die Großzügigkeit des neuen Herrschers, sondern diente auch der Festigung seiner Popularität und der sozialen Harmonie in einer Stadt, die von vielfältigen Interessen und Machtansprüchen geprägt war. Darüber hinaus spiegelte der Wahlprozess der Dogen auch eine Machtbalance niedlicher wie beeindruckender politischer und sozialer Institutionen wider. Einrichtungen wie der Große Rat, der Staatapparat und spezialisierte Kammern arbeiteten Hand in Hand, um die Macht des Dogen einzuschätzen und gegebenenfalls zu beschränken. Diese Systematik war nicht nur ein Ausdruck von Misstrauen gegenüber Einzelpersonen, sondern auch ein innovativer Ansatz zur Sicherung kollektiven Staates durch ein komplexes Netz von Checks and Balances.
Historische Episoden wie die Rolle von Doge Enrico Dandolo in der Eroberung Konstantinopels oder die skandalöse Herrschaft von Doge Marino Faliero, der einen Staatsstreich versuchte, zeigen eindrucksvoll wie wichtig und gleichzeitig gefährlich die Position des Dogen sein konnte. Die Wahlprozedur sollte somit nicht nur eine legitime Machtübertragung gewährleisten, sondern auch verhindern, dass unredliche Ambitionen das fragile Gleichgewicht der Serenissima zerstörten. Der Wahlprozess des Dogen von Venedig ist ein faszinierendes Zeugnis venezianischer Innovationskraft in Sachen Staatsführung und eine Inspiration für moderne politische Systeme, die sich mit Fragen von Legitimität, Machtteilung und Korruptionsvermeidung auseinandersetzen. Die Balance zwischen Losglück und bewusster Entscheidung, zwischen Tradition und politischem Kalkül macht die Wahl des Dogen zu einem einzigartigen historischen Phänomen – einem komplizierten und raffinierten Mechanismus, der das Herz der Republik Venedig schlug und ihre Stabilität über Jahrhunderte hinweg sicherte.