Das Rätsel der Dunklen Materie gilt als eine der größten Herausforderungen in der modernen Astrophysik. Obwohl sie keinen Lichtstrahl reflektiert, absorbiert oder emittiert und somit praktisch unsichtbar ist, macht Dunkle Materie einen bedeutenden Anteil der Gesamtmasse im Universum aus. Wissenschaftler können ihre Existenz nur indirekt durch ihre gravitativen Effekte beobachten. Eine dieser faszinierenden Methoden, um Dunkle Materie zu erforschen, ist die Untersuchung von Gravitationslinsen – einem Phänomen, das erstmals durch Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie vorhergesagt wurde und nun durch das NASA-Nancy Grace Roman Space Telescope vollkommen neue Erkenntnisse ermöglichen wird. Das Teleskop ist so konzipiert, dass es ab 2027 riesige Himmelsausschnitte mit bisher unerreichter Präzision erfassen kann.
Mit seinem 300-Megapixel-Wide-Field-Instrument wird es nicht nur mehr als 160.000 Gravitationslinsen aufspüren, sondern davon rund 500 für detailreiche Studien zur Natur der Dunklen Materie nutzen. Diese enorme Menge an Daten verspricht, unsere Sicht auf die kosmische Materieverteilung grundlegend zu verändern. Gravitationslinsen entstehen, wenn das Licht entfernter Galaxien durch die Gravitation massereicher Vordergrundgalaxien gebündelt und verzerrt wird. Dabei kann ein Hintergrundobjekt mehrfach sichtbar werden – in Form von Bögen, Ringen oder verzerrten Bildern.
Die Stärke und Art der Verzerrung hängt unmittelbar von der Masseverteilung sowohl sichtbarer als auch unsichtbarer Materie ab. Die Dunkle Materie, obwohl unsichtbar, übt ebenfalls gravitative Kräfte aus und beeinflusst somit das Linseneffektmuster. Je kleiner die von der Dunklen Materie hervorgerufenen Massenklumpen sind, desto subtiler sind die Veränderungen des Lichtweges. Das besondere Interesse der Forscher liegt daher darin, diesen feinen Verzerrungen nachzugehen, um mehr über die Struktur und den Aufbau der Dunklen Materie auf kleinen Skalen zu erfahren. Das Roman Space Telescope bietet hier einen entscheidenden Vorteil: Seine scharfen und großflächigen Infrarotbilder ermöglichen es, die winzigen Bewegungen und Verzerrungen des Lichts mit einer Genauigkeit von bis zu 50 Millibogensekunden zu messen – vergleichbar mit dem Erkennen eines menschlichen Haares aus mehr als zwei Fußballfeldern Entfernung.
Im Vergleich zu bisherigen Teleskopen wie Hubble, dessen Infrarot-Aufnahmen nur geringere Flächen mit weniger Detail erfassten, ist Roman in der Lage, viel mehr kosmische Gravitationslinsen zu entdecken und detailliert zu analysieren. Diese Datenmenge macht es möglich, von der bislang sehr kleinen Stichprobe auf eine massive statistische Grundlage für die Dunkle Materieforschung umzusatteln. Die Vielfalt der entdeckten Gravitationslinsen erlaubt es, die Verteilung der Dunklen Materie in einer Vielzahl von Galaxien verschiedenster Typen und Altersstufen zu untersuchen und Rückschlüsse auf die Teilchennatur der Dunklen Materie zu ziehen. Denn trotz zahlreicher indirekter Nachweise ist bislang unklar, welches Teilchen oder welche Teilchenarten die Dunkle Materie tatsächlich bilden. Das Studium der Verteilung auf kleinen Skalen kann Hinweise liefern, ob Dunkle Materie aus schweren, schwach wechselwirkenden Teilchen besteht oder ob alternative Modelle besser erklärend sind.
Neben der reinen Entdeckung neuer Linsen wird das Team um Bryce Wedig von der Washington University in St. Louis vor dem Start von Roman bereits Daten aus anderen großen Himmelssurveys wie der ESA-Mission Euclid und dem Vera-C.-Rubin-Observatorium in Chile auswerten. Die Kombination aus Sichtbarem Licht (Euclid, Rubin) und Infrarot (Roman) schafft eine noch umfassendere Grundlage für die Analyse der Gravitationslinsen und ihrer Massenverteilung. Diese Zusammenarbeit verspricht eine akkurate Charakterisierung der Dunklen Materie in den Vordergrundgalaxien durch präzises Mapping der Massenklumpen.
Gerade die bisher unzugänglichen kleinen Skalen geben Aufschluss darüber, wie sich Dunkle Materie über die kosmische Zeit verdichtet und welche Dynamik bei der Galaxienbildung eine Rolle spielt. Das Roman Space Telescope wird damit eine neue Ära der Kosmologie einläuten. Während frühere Instrumente wichtige Einblicke in großräumige Strukturen lieferten, konzentriert sich Roman auf feinere Details, die für das Verständnis der fundamentalen Natur der Dunklen Materie entscheidend sind. Die Herausforderung liegt darin, die geradezu winzigen Verzerrungen des Lichts zu erkennen, die von den kleinsten Dunkle-Materie-Strukturen verursacht werden. Diese Klumpen sind Bausteine, aus denen sich durch Zusammenschluss die heutigen Galaxien gebildet haben.
Die Beobachtung und Analyse hunderter solcher Linsen mit diesen Eigenschaften wird die Forschergemeinschaft mit einer Datenfülle versorgen, die bislang undenkbar war. Dieses tiefe Verständnis kann wiederum entscheidend dazu beitragen, das Teilchenmodell der Dunklen Materie zu überprüfen und potenziell neu zu definieren. Das Roman Telescope ist nicht nur ein technisches Meisterwerk, sondern auch ein Paradebeispiel für internationale Kooperationen, die modernste Technologien mit astrophysikalischen Fragestellungen verbinden. Beteiligte Institutionen wie das NASA Goddard Space Flight Center, das Jet Propulsion Laboratory, Caltech/IPAC und das Space Telescope Science Institute bündeln ihr Know-how, um das Missionsergebnis zu maximieren. Dies umfasst auch die Entwicklung innovativer Algorithmen zur automatischen Erkennung und Auswertung der Gravitationslinsen-Phänomene in der gewaltigen Datenmenge.
Die Möglichkeiten, die das Roman Telescope bietet, gehen weit über die Erforschung der Dunklen Materie hinaus. Es wird auch wichtige Beiträge zum Verständnis der Dunklen Energie, der Galaxienentwicklung, der Sterne und Schwarzer Löcher leisten. Doch gerade im Bereich der Dunklen Materie wird es dank seiner einzigartigen Fähigkeiten seinen Hauptbeitrag leisten – durch das Einfangen der verborgenen Gravitationssignale, die die unsichtbare Kosmossubstanz hinterlässt. Kurz vor dem Start der Mission werden ergänzend Beobachtungen von Euclid und Vera C. Rubin observatorium helfen, geeignete Kandidaten für intensive Studien mit Roman auszuwählen.