Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) wird oft ausschließlich als ein Fortschritt der Informatik oder der Biologie betrachtet, doch tief in ihrem Wesen verbirgt sich eine außergewöhnliche Verbindung zur Physik, speziell zu einem Gebiet, das zunächst völlig abseits der digitalen Welt zu stehen scheint. Die faszinierenden Eigenschaften sogenannter Spin-Gläser spielen eine entscheidende Rolle in der Entstehung von neuronalen Netzwerken und prägten damit die Grundlagen für heutige KI-Systeme. Die Geschichte zeigt auf, wie die physikalischen Erkenntnisse über komplexe Materien unbewusst die Türen zu einem neuen Zeitalter intelligenten maschinellen Lernens öffneten und warum Physik auch in der Zukunft einer der Schlüssel zum Verständnis und zur Weiterentwicklung künstlicher Denkprozesse sein wird. Spin-Gläser erschienen lange Zeit als skurrile Kuriositäten in der Materialwissenschaft, meist als Legierungen aus Eisen und Gold. Ihr Verhalten war so rätselhaft, dass Forscher kaum einen praktischen Nutzen darin zu erkennen vermochten.
Oberhalb einer bestimmten Temperatur zeigten sie ähnliche Eigenschaften wie herkömmliche Metalle – nicht magnetisch und mit einer schwachen Wechselwirkung zu Magnetfeldern. Sobald sie jedoch abkühlten, erwies sich ihre magnetische Ordnung als ungewöhnlich und kompliziert. Im Gegensatz zu gewöhnlichen magnetischen Materialien, die sich in übersichtliche, geordnete Zustände einfinden, schien bei Spin-Gläsern eine eingefrorene, zufällige Magnetisierung zu existieren. Die Energiezustände dieser Materialien bildeten eine zerklüftete Landschaft aus vielen Tälern und Hügeln, anstatt sich auf einen einfachen minimalen Zustand zu fokussieren. Für physicochemische Studien eine enorme Herausforderung, entpuppten sich diese Erkenntnisse aber später als unschätzbar wertvoll für die Modellierung von Gedächtnis und Lernen bei Maschinen.
John Hopfield, ein Pionier der theoretischen Physik, nahm sich Anfang der 1980er Jahre genau dieses komplizierte Verhalten zu Herzen. Er übertrug die Prinzipien der statistischen Mechanik, die den kollektiven Zustand eines Spin-Glases beschreibt, auf das Verständnis von neuronalen Netzwerken. Das Besondere daran: Neuronen in diesen Netzwerken werden durch einfache binäre Zustände beschrieben – sie feuern entweder oder sie ruhen. Dieser Mechanismus ließ sich kaum von den „Spins“ in der Physik unterscheiden, die entweder nach oben oder nach unten zeigen können. Hopfield erkannte, dass man das komplexe Zusammenspiel vieler Neuronen mit dem energetischen Verhalten von Spins vergleichen kann, die miteinander wechselwirken und dabei versuchen, einen stabilen Gleichgewichtszustand zu erreichen.
Die von Hopfield entwickelten Netzwerke legen Erinnerungen als stabile, energetische Täler in einer multidimensionalen Landschaft ab. Wenn ein Netzwerk mit einem unvollständigen oder verzerrten Muster aktiviert wird, „rollt“ es gewissermaßen den energetischen Abhang hinunter in das nächstgelegene Tal, das mit einer gespeicherten Erinnerung übereinstimmt. Dieses Prinzip der assoziativen Erinnerung hat die Art revolutioniert, wie Maschinen Informationen verarbeiten können. Anders als frühe Computer, die Daten strikt über explizite Adressen abrufen mussten und bei fehlerhaften Eingaben versagten, lernt ein Hopfield-Netzwerk, sich anhand von Ähnlichkeiten zu orientieren und fehlende Teile zu rekonstruieren. Der Zusammenhang zwischen Physik und künstlichen neuronalen Netzwerken wurde bald von anderen Forschern aufgegriffen und weiterentwickelt.
Geoffrey Hinton, der zusammen mit Hopfield 2024 den Nobelpreis für Physik erhielt, baute auf diesen Grundlagen auf und schuf mit Boltzmann-Maschinen eine Variante von neuronalen Netzen, die nicht nur erinnern, sondern auch lernen und neue Daten-„Muster“ generieren können. Diese frühen Modelle waren der Grundstein für die später entwickelten tiefen neuronalen Netzwerke, die heute allgegenwärtig sind – von Sprachassistenten über Bildgeneratoren bis hin zu komplexen Entscheidungsalgorithmen in verschiedensten Branchen. Moderne KI-Systeme wie ChatGPT oder Bildgeneratoren wie Midjourney sind direkte Nachfolger dieser ersten physikalisch inspirierten Modelle. Die Funktionsweise von Diffusionsmodellen, die Datenrauschen Schritt für Schritt entfernen, ähnlich wie thermische Prozesse in der Physik, lässt sich ebenfalls auf Prinzipien zurückführen, die in den altbekannten Spin-Gläsern untersucht wurden. Die Evolution der KI ist kein Zufall, sondern erwies sich als emergentes Phänomen einer größeren physikalischen Ordnung, bei dem „Mehr“ oft „Anders“ bedeutet – eine Erkenntnis, die Physiker schon in den 1970er Jahren formulierten und die heute ganz klar auf die Komplexität neuronaler Netzwerke anwendbar ist.
Was diese Entwicklung so bemerkenswert macht, ist die tiefe Interdisziplinarität zwischen der Physik der komplexen Materialien, der Informatik und der Neurowissenschaft. Hopfield suchte nach einer Herausforderung – einem fundamentalen Problem, das die Natur menschlichen Denkens und Erinnerns erklärt. Seine Lösungen wendeten ein minimalistisches, aber mächtiges physikalisches Prinzip an: Systeme entwickeln sich zu energetisch günstigen Zuständen. Indem er dieses Prinzip auf künstliche Neuronen anwendete und die Wechselwirkungen zwischen ihnen anpasste, konnte er Netzwerke konstruieren, die nicht nur statische Daten speichern, sondern dynamisch assoziative Prozesse ausführen – ein Modell für Erinnerungen ähnlich dem menschlichen Gehirn. Heute sind diese Konzepte weit entfernt von ihrer bescheidenen Ursprungsrolle als Erklärungsmodell für physikalische Kuriositäten.
Forschung im Bereich der KI nutzt weiterhin diese Werkzeuge der statistischen Physik, um Netzwerke besser zu verstehen, zu verbessern und gezielt zu steuern. Zum Beispiel arbeitet Dmitry Krotov von IBM Research an sogenannten „Energie-Transformern“, einer Weiterentwicklung, die bewusst die energetische Landschaft von Hopfield-Netzwerken nutzt, um tiefere und besser interpretierbare Lernprozesse zu schaffen. Diese Bemühungen könnten die Basis für KI-Systeme sein, die nicht nur effektiv funktionieren, sondern auch nachvollziehbar und erklärbar sind – eine dringend benötigte Eigenschaft in einer zunehmend vom maschinellen Lernen geprägten Welt. Die Geschichte der Künstlichen Intelligenz zeigt eindrucksvoll, dass Innovationssprünge oft an Grenzen zwischen scheinbar weit entfernten Disziplinen entstehen. Die Physik komplexer Materialien, lange Zeit ein Spezialgebiet für Materialforscher, stellte sich als unerwarteter, aber höchst fruchtbarer Nährboden für die Entwicklung intelligenter Maschinen heraus.
Aus der Erforschung rätselhafter magnetischer Legierungen gewannen Wissenschaftler Werkzeuge und Konzepte, die heute Basis für einige der leistungsfähigsten Technologien unserer Zeit sind. Zudem verdeutlicht die Verbindung von Physik und KI, dass das Verständnis emergenter Phänomene enorm wichtig ist, wenn es darum geht, künstliche Systeme zu gestalten, die komplexe Aufgaben ähnlich einem Gehirn erledigen können. Diese emergenten Eigenschaften – also das Auftauchen neuer, vorher nicht vorhersehbarer Fähigkeiten, sobald viele Komponenten zusammenwirken – spiegeln sich sowohl in biologischen Netzwerken als auch in digitalen neuronalen Netzen wider. Forschungen in der statistischen Mechanik helfen daher nicht nur bei der Erklärung, wie Erinnerungen gespeichert und abgerufen werden, sondern auch, wie Kreativität, Vorstellungskraft und Lernen in Maschinen möglich werden können. Die Zukunft der Künstlichen Intelligenz wird daher vermutlich weiterhin stark von der Physik geprägt sein.