Belgien hat im Mai 2025 einen historischen Wendepunkt in seiner Energiepolitik vollzogen: Das Parlament hat mit einer klaren Mehrheit die bisherige Gesetzgebung zum schrittweisen Atomausstieg aufgehoben. Das bedeutet das Ende eines politischen Kapitels, das seit über zwanzig Jahren die belgische Energieversorgung entscheidend prägte. Die Entscheidung fiel mit 102 Ja-Stimmen bei nur acht Gegenstimmen und 31 Enthaltungen. Mit diesem weitreichenden Beschluss will Belgien seine Energiezukunft sicherer, wirtschaftlich nachhaltiger und umweltfreundlicher gestalten. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Rolle der Kernenergie, die in Belgien einen bedeutenden Anteil am Strommix ausmacht.
Die Entscheidung des Parlaments spiegelt den Wandel in der europäischen Energiepolitik wider und reagiert vor allem auf neue geopolitische und wirtschaftliche Herausforderungen. Der Hintergrund der belgischen Nuklearpolitik ist tief in der jüngeren Geschichte verwurzelt. Im Jahr 2003 verabschiedete das belgische Parlament ein Gesetz, das den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie bis spätestens 2025 vorsah. Dieses Gesetz enthielt zudem ein Verbot, weitere Kernkraftwerke zu errichten. Damals war die Kernenergie in der öffentlichen Debatte stark umstritten und wurde als riskant eingestuft, vor allem nach Atomunfällen wie in Tschernobyl und Fukushima.
Dennoch war die Kernkraft bis dato eine zentrale Säule der belgischen Energieversorgung, die rund 40 Prozent des Strombedarfs deckte. Doch die Rahmenbedingungen haben sich seither deutlich verändert. Die Energiekrise infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine seit 2022 führte europaweit zu einer Neubewertung der Energieabhängigkeiten, Versorgungssicherheit und Klimaschutzziele. In Belgien hatte die Regierung daraufhin beschlossen, die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke um zehn Jahre zu verschieben. Nur ein Jahr später ist das Thema jedoch noch einmal neu aufgerollt worden – und diesmal mit einer endgültigen Entscheidung für die Sicherung der Kernenergie im Land.
Der Energie- und Klimaminister Mathieu Bihet von der konservativen Reformbewegung bezeichnete die Entscheidung als Wendepunkt. Für ihn ist das Ende des Atomausstiegs nicht nur eine Anpassung der Energiepolitik, sondern ein umfassender Schritt zur Förderung eines widerstandsfähigen Energieversorgungssystems. Die damit verfolgte Strategie soll gewährleisten, dass Belgien künftig nicht nur seine ökologischen Verpflichtungen erfüllt, sondern auch ökonomisch wettbewerbsfähig bleibt und strategisch unabhängig von fossilen Importen ist. Die Bedeutung der Kernkraft für die belgische Energieinfrastruktur kann nicht unterschätzt werden. Die beiden bestehenden Kernkraftwerke, betrieben vom französischen Energieunternehmen Engie, sind unverzichtbare Bestandteile des belgischen Stromnetzes.
Mit ihrer Abschaffung wären erhebliche Versorgungslücken entstanden, die sich nur schwer durch erneuerbare Energien kompensieren lassen. Zwar wächst der Anteil von Wind- und Solarenergie kontinuierlich, doch die fluktuierende Natur dieser Energieträger erfordert eine stabile Grundlastversorgung, die derzeit nur die Kernenergie oder fossile Kraftwerke bieten können. Parallel dazu zeichnet sich in Europa ein breiterer Trend ab, bei dem zahlreiche Länder ihre Atompolitik überdenken. Die Niederlande und Schweden zum Beispiel planen den Bau neuer Kernkraftwerke, während Länder wie Italien eine Rückkehr zur Kernenergie zumindest offen diskutieren. Deutschland hingegen hält weiterhin an seinem Atomausstieg fest, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile eine Neubewertung befürwortet.
Rafael Grossi, der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), hat 2024 die Möglichkeit eines deutschen Wiedereinstiegs in die Kernenergie als „logisch“ bewertet. Diese Entwicklungen sind Ausdruck eines größeren Paradigmenwechsels: Die Frage nach Sicherheit, Klimaschutz und Energieunabhängigkeit gewinnt angesichts der geopolitischen Krisen und des Klimawandels an Brisanz. Kernenergie, lange Zeit von Umweltorganisationen abgelehnt, wird zunehmend als wichtige Brückentechnologie erkannt, um die Dekarbonisierung zu erreichen, während erneuerbare Energiesysteme weiter ausgebaut und stabilisiert werden. Die politischen Kräfteverhältnisse in Belgien haben den Kurswechsel maßgeblich beeinflusst. Die vorherige Regierungskoalition mit starken grünen Bewegungen Ecolo und Groen hatte an der Nuklearphobie festgehalten und auf einen vollständigen Atomausstieg gedrängt.
Mit dem Regierungswechsel und dem Amtsantritt von Premierminister Bart De Wever setzte eine konservative Mehrheit einen pragmatischen Kurs durch, der auf wirtschaftliche Realitäten und Energiesicherheit abzielt. Für die belgische Wirtschaft bedeutet das Festhalten an der Kernenergie Stabilität und Planbarkeit. Unsichere Energiepreise und drohende Engpässe können so besser vermieden werden, was insbesondere für energieintensive Branchen entscheidend ist. Zudem verspricht die Regierung, die Kernenergie verantwortungsvoll und mit Blick auf Umweltstandards zu betreiben, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen. Kritiker dieser Entscheidung warnen jedoch vor den Risiken der Kernenergie, insbesondere in Bezug auf Entsorgung der radioaktiven Abfälle und potentielle Unfälle.
Sie plädieren weiterhin für einen verstärkten Ausbau erneuerbarer Energien und Energieeffizienzmaßnahmen als langfristige Lösungen. Diese Debatte wird in Belgien sicherlich weiter geführt werden, aber der Beschluss des Parlaments setzt aktuell ein starkes politisches Signal zugunsten der Atomkraft. Unabhängig von den unterschiedlichen Standpunkten zeigt der Beschluss, wie dynamisch und komplex Energiepolitik heute ist. Sie ist keine rein technische Fragestellung mehr, sondern eng mit gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und geopolitischen Faktoren verbunden. Belgien steht beispielhaft für viele Länder, die zwischen Klimazielen und Energiesicherheit abwägen müssen und dabei neue Wege suchen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die belgische Entscheidung, den Atomausstieg abzubrechen, ein bedeutender Meilenstein auf dem Weg zu einer resilienten und nachhaltigen Energiezukunft ist. Sie zeigt, wie alte Paradigmen durch neue Realitäten verdrängt werden und wie wichtig eine flexible Energiepolitik ist, die nationale Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltaspekte vereint. Mit diesem Kurs setzt Belgien ein deutliches Zeichen im europäischen Energiediskurs und sendet ein Signal an andere Nationen, ihre Energiepolitik kritisch zu hinterfragen und anzupassen.