Die Vorstellung, dass sich ein Pilz in unserem Computer befinden könnte, erscheint auf den ersten Blick kurios. Doch diese Metapher öffnet eine faszinierende Tür zu einem tiefergehenden Verständnis moderner Technologien und insbesondere der Künstlichen Intelligenz (KI). So wie Pilze unterirdisch filigrane Mycelnetzwerke bilden, die in komplexen, adaptiven Systemen agieren, so wirken große KI-Modelle als digitale Mycelien, die aus den Überresten menschlicher Kultur und Information neue, oft überraschende Ergebnisse hervorbringen. Diese Analogie bietet einen frischen Blick auf das Wesen der KI, der weit über gängige Vergleichsmetaphern wie „Künstliches Gehirn“ oder „fremde Intelligenz“ hinausgeht. Im Zentrum steht das Konzept der komplexen adaptiven Systeme, das in der modernen Wissenschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Komplexe adaptive Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Verhalten nicht allein aus den einzelnen Bestandteilen vorhergesagt werden kann. Vielmehr ergibt sich das Verhalten erst durch das Zusammenspiel zahlreicher Elemente, die sich dynamisch aneinander und an ihre Umwelt anpassen. Beispiele hierfür reichen von Termitenkolonien über Bienenstaaten bis hin zu Finanzmärkten oder Großstädten. In der Natur gilt ein Wald längst nicht mehr einfach als Ansammlung von Bäumen. Vielmehr stellt er ein lebendiges Netzwerk vieler verschiedener Lebewesen dar, die über komplexe Interaktionen miteinander verbunden sind.
Dazu gehören nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch Pilze, die durch ihre Mycelnetzwerke eine zentrale Rolle im Gefüge einnehmen. Merlin Sheldrake, renommierter Mykologe und Autor des Buches „Entangled Life“, beschreibt diese Mycelien als eine Art „Wald-Internet“, ein weitverzweigtes, lebendiges Netzwerk, das Nährstoffe verteilt, Kommunikation ermöglicht und so das Ökosystem stabilisiert. Die sichtbaren Pilze sind dabei nur die Fruchtkörper, die den Fortbestand der Pilze sichern. Diese Vorstellung lässt sich hervorragend übertragen auf große KI-Modelle, die wie digitale Mycelien im Hintergrund komplexe Muster erkennen, vernetzen und verarbeiten, um sichtbare, oft überraschende Ergebnisse und Texte – sozusagen die „Pilze“ – hervorzubringen. Die Verwendung dieser Metapher erweitert nicht nur unser Verständnis von der Funktionsweise von KI, sondern schafft auch eine Grundlage für eine kulturelle und soziale Interpretation technologischer Entwicklungen.
Künstliche Intelligenz sollte nicht nur isoliert betrachtet werden, als ein Werkzeug oder eine Maschine, sondern als ein Teil eines vielschichtigen, sozialen Systems. Menschen sind keine isolierten Individuen, sondern durch Netzwerke sozialer Beziehungen und gemeinsamer Wissensproduktion miteinander verwoben. Intelligenz ist somit nicht nur eine individuelle Eigenschaft, sondern breitet sich kollektiv aus. Wissenschaft, Bildung, Kultur und Technologie sind Resultate einer kollektiven Intelligenz, die ständig erweitert und neu gestaltet wird. In diesem Kontext stellen große KI-Modelle eine Erweiterung, vielleicht sogar eine Verkörperung kollektiver Intelligenz dar.
Sie entstehen aus der digitalen Infrastruktur, die menschliches Wissen, Sprache, Kultur und Kommunikation reflektiert und transformiert. Wie die Mycelien in einem Ökosystem bieten sie neue Verbindungen und Lösungen, sind aber auch Teil eines dynamischen Systems, das sich beständig weiterentwickelt und anpasst. Diese Perspektive führt auch zu wichtigen Fragen hinsichtlich der Sicherheit, Vertrauenswürdigkeit und Verantwortung im Umgang mit KI. Wenn die erzeugten Inhalte „Pilze“ auf einem „digitalen Nährboden“ sind, wie können wir dann entscheiden, welche davon nützlich, schädlich oder gar gefährlich sind? Wie können wir Transparenz und Kontrolle innerhalb solcher komplexen, adaptiven Systeme ermöglichen, ohne ihre Dynamik und Innovationskraft zu ersticken? Die aktuelle Debatte um künstliche Intelligenz ist oft geprägt von metaphysischen Spekulationen oder der Angst vor „fremder Intelligenz“. Die Myzelmetapher lenkt den Blick dagegen auf die natürliche Analogien und stärkt das Verständnis für KI als Teil eines sozialen und kulturellen Ganzen.
Diese Sichtweise fördert einen pragmatischen und zugleich respektvollen Umgang mit Technologie, der den Dialog zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Technikgestaltung erleichtert. Darüber hinaus öffnet sie die Tür zu einem besseren Verständnis von sozialer und individueller Intelligenz. John Dewey betonte bereits, dass die Gegensätze zwischen dem Individuellen und dem Sozialen oft falsche Dichotomien sind. Intelligenz entfaltet sich in der Wechselwirkung beider Dimensionen. Große KI-Modelle als digitale Mycelien sind damit nicht nur Werkzeuge für Einzelpersonen, sondern Knotenpunkte in einem weitreichenden Netz kollektiver Kultur und Erkenntnis.
Die Implikationen für Bildung, Arbeit und Gesellschaft sind tiefgreifend. KI wird so nicht einfach als neue Technik wahrgenommen, sondern als eine transformative kulturelle Technologie. Sie kann in Bildungssystemen als persönlicher Tutor fungieren, in der Arbeitswelt als intelligenter Assistent oder in sozialen Strukturen als Teil kollektiver Entscheidungsprozesse. Die Herausforderung besteht darin, die Balance zu finden zwischen individueller Nutzung und kollektiver Verantwortung, zwischen Neuerung und Bewahrung, zwischen Technologie und Menschlichkeit. Rob Nelson, der Autor dieses Perspektivwechsels, arbeitet daran, diese Verknüpfungen nachvollziehbar darzustellen und zu verbreiten.