Die Region der Großen Seen in Nordamerika, bekannt für ihre weitläufigen Wälder, ausgedehnten Seen und rauen klimatischen Bedingungen, gilt heutzutage nicht unbedingt als idealer Ort für intensive Landwirtschaft. Doch archäologische Untersuchungen haben eindrucksvoll gezeigt, dass bereits mehr als 600 Jahre vor der Ankunft europäischer Siedler indigene Völker in dieser Gegend eine ausgeklügelte Landwirtschaft betrieben. Dabei haben sie ganze Landstriche in produktive Felder verwandelt und so die Landschaft grundlegend verändert. Die jüngsten Entdeckungen rund um die Sixty Islands in Michigans Upper Peninsula bringen neues Licht auf das beeindruckende landwirtschaftliche Know-how der indigenen Bevölkerung, insbesondere der Menominee, und stellen unsere bisherigen Vorstellungen über die Landwirtschaft in der nördlichen Großen Seen-Region auf den Kopf. Das raue Klima mit harten Wintern und relativ armen Böden hätte kaum vermuten lassen, dass hier einmal ein derart umfangreiches und effizientes landwirtschaftliches System existierte.
Doch genau das zeigten die Ergebnisse aus der Zusammenarbeit zwischen Forschern von Dartmouth College und Vertretern des Menominee-Stammes. Mithilfe fortschrittlicher Technologien wie drohnenbasierter Lidar-Kartierung konnten sie verborgene Strukturen im Wald sichtbar machen. Es stellte sich heraus, dass sich auf einer Fläche von fast 100 Hektar ein komplexes Netzwerk von landwirtschaftlich genutzten Flächen mit langen, niedrigen Bodenwällen befand. Diese Wälle, typischerweise 10 bis 35 Zentimeter hoch, dienten als sogenannte Hochbeete, die nicht nur den Boden vor Auskühlung schützten, sondern auch Feuchtigkeit besser speicherten. Dadurch verlängerte sich die Vegetationsperiode, was besonders in dieser klimatisch anspruchsvollen Region enorm von Vorteil war.
Beeindruckend ist die Tatsache, dass diese Felder ohne den Einsatz von Zugtieren oder moderner Technik reiner Handarbeit entstanden. Dies spricht für eine hoch entwickelte Organisation und landwirtschaftliche Kompetenz innerhalb der indigenen Gemeinschaften. Durch Kompostierung und das gezielte Hinzufügen nährstoffreicher Feuchgebiets-Erde schufen die Bauern fruchtbare Bedingungen, die den Anbau von Mais, Bohnen und Kürbis in großen Mengen ermöglichten. Diese drei Pflanzen zählen zu den sogenannten „drei Schwestern“ der indigenen Landwirtschaft und spielten in vielerlei Hinsicht eine zentrale Rolle für Ernährung und Kultur. Die Entdeckungen haben wichtige Folgen für unser Verständnis der Vintage-Landwirtschaft in Nordamerika.
Bisher galten die großen, komplexen landwirtschaftlichen Systeme oft mit urbanen Zentren und einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur verbunden. Doch die Landwirtschaft am Great Lakes zeigt, dass bedeutende Veränderungen in der Landschaft auch ohne zentralistische Herrschaftssysteme möglich sind. Die variierende Ausrichtung und Länge der Felder deutet darauf hin, dass unterschiedliche Gruppen unabhängig voneinander agierten, was eine beeindruckende Form dezentraler, dennoch koordinierter Landbewirtschaftung offenbart. Das landwirtschaftliche System war offenbar Teil eines größeren kulturellen Netzwerks. Während der Mississippian-Kultur, die zwischen 600 und 1400 n.
Chr. blühte und für ihre Erbauer von Erdhügeln und weit verbreitete Handelsbeziehungen bekannt ist, entstanden auch in der Region um die Großen Seen komplexe bäuerliche Strukturen. Insbesondere die Nähe zu bedeutenden Handelszentren wie Aztalan in Wisconsin zeigt, dass die dort produzierten Agrarprodukte vermutlich nicht nur dem Eigenbedarf dienten, sondern auch in weitreichende Austauschbeziehungen eingebunden waren. Ein möglicher Handelspartner waren etwa Regionen um den Oberen See, die für ihren Kupferabbau bekannt waren. Somit könnte diese Landwirtschaft sogar einen bedeutenden Einfluss auf die wirtschaftlichen Netzwerke um die Großen Seen herum gehabt haben.
Die Tatsache, dass nach der Ankunft der Europäer die Krankheitsepidemien die indigenen Bevölkerung stark dezimierten, führte dazu, dass viele dieser landwirtschaftlichen Flächen wieder in den Wald zurückkehrten und so lange verborgen blieben. Erst mit modernen archäologischen Methoden beginnt man, diese verlorenen Kapitel indigener Geschichte wieder sichtbar zu machen und die Rolle der indigenen Bevölkerung als Landschaftsgestalter anzuerkennen. Die Kooperation der Menominee mit Wissenschaftlern ist beispielhaft für neue, respektvolle und inklusive Formen der Archäologie, bei der das Wissen und die Perspektiven indigener Gemeinschaften im Mittelpunkt stehen. Denn diese Orte und Geschichten sind nicht nur historisch bedeutsam, sondern auch für die kulturelle Identität und das Selbstverständnis der heutigen und zukünftigen Generationen von großer Bedeutung. Für die Zukunft eröffnen die Methoden wie Lidar-Kartierung zahlreiche Möglichkeiten, weitere unbekannte landwirtschaftliche Stätten zu entdecken – nicht nur in der Großen Seen-Region, sondern auch in anderen bewaldeten Gebieten im Nordosten der USA und in Kanada.
So könnte sich unser Verständnis der präkolumbianischen Landwirtschaft noch umfassender und differenzierter gestalten. Indem wir die Errungenschaften der indigenen Bauern ehren und integrieren, erweitern wir nicht nur unser historisches Wissen, sondern können auch neue, nachhaltige Ansätze für den heutigen Umgang mit der Natur und Landwirtschaft gewinnen. In einer Zeit, in der ökologische Herausforderungen und klimatische Veränderungen uns vor neue Aufgaben stellen, liefern die Lehren aus der Vergangenheit wertvolle Impulse. Die Erkenntnis, dass frühe Agrargesellschaften im Norden Amerikas hoch entwickeltes Wissen über Bodenpflege und klimaangepassten Anbau besaßen, kann eine wichtige Inspirationsquelle für moderne Agrarstrategien sein. Die Geschichte der Great Lakes Landwirtschaft zeigt eindrucksvoll, dass Innovation, Anpassungsfähigkeit und eine enge Verbindung zur Natur bereits vor Jahrhunderten zentrale Faktoren für den Erfolg menschlicher Gemeinschaften waren.
Sie erinnert uns auch daran, die kulturellen Leistungen indigener Völker nicht als Relikte der Vergangenheit, sondern als lebendige und inspirierende Traditionen zu betrachten, die auch gegenwärtig Bedeutung haben.