In der heutigen Arbeitswelt verändern technologische Entwicklungen und neue Organisationsformen die Machtverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern grundlegend. Zwei Begriffe, die zunehmend an Bedeutung gewinnen, sind „Chickenization“ und „Reverse-Centaurs“. Während der erste Begriff die strukturelle Abhängigkeit und Kontrolle von Arbeiter*innen durch wenige Monopole beschreibt, verweist der zweite auf das Umkehrmodell traditioneller Mensch-Maschine-Kooperationen. Gemeinsam stehen sie für eine neue Dimension der digitalen Arbeitsausbeutung – doch es regt sich auch Widerstand. „Chickenization“ entstammt ursprünglich der Geflügelindustrie in den USA, die von wenigen monopolistischen Verarbeitern dominiert wird.
Bauern, obwohl formal selbständige Kleinunternehmer, sind durch exklusive Gebietszuteilungen und strenge Vorgaben ihrer jeweiligen Käufer nahezu vollständig entmachtet. Diese Prozessoren bestimmen nicht nur, welche Geflügelarten zu züchten sind, sondern regulieren auch Fütterung, Betriebszeiten, eingesetzte Medikamente und sogar die Auswahl der Tierärzte. Die Bezahlung wiederum erfolgt durch eine rigide Kalkulation, die gerade so alle laufenden Kosten deckt, während ein echter Gewinn für die Arbeiter*innen unmöglich bleibt. Dieses Modell verfestigt eine Struktur, in der der vermeintliche Unternehmer eigentlich kaum Entscheidungsfreiheit besitzt – er wird mehr zum verlängerten Arm eines mächtigen Konzerns. Diese Form der Arbeitsausbeutung hat sich inzwischen auf viele Bereiche der modernen Gig Economy ausgeweitet.
Plattformen wie Uber, Amazon oder DoorDash operieren im gleichen Muster: Arbeiter*innen erscheinen als selbständige Dienstleister, sind jedoch durch und durch von den Algorithmen und den Vorgaben der Unternehmen abhängig. Fahrer*innen müssen im Fall von Amazon ihre eigenen Fahrzeuge anschaffen und warten, dennoch behält der Konzern die volle Kontrolle über Arbeitszeiten, Routen und sogar das Verhalten der Fahrer*innen durch umfassende Videobeobachtung und algorithmische Überwachungssysteme. Trotz der menschlichen Beteiligung ist die Entscheidungsgewalt klar auf Seiten der künstlichen Intelligenz – daher spricht man von „Reverse-Centaurs“. Der Begriff „Centaur“ stammt aus der Welt der künstlichen Intelligenz und beschreibt traditionell eine symbiotische Zusammenarbeit von Mensch und Maschine, bei der der Mensch die Führung übernimmt und die Technik unterstützend agiert – beispielsweise beim Schachturnier, in dem ein Mensch mit einem Computerprogramm gemeinsam gegen Gegner antritt. Beim „Reverse-Centaur“ ist die Hierarchie jedoch gedreht: Die KI übernimmt die Rolle des Kopfes, der die Entscheidungen trifft, während der Mensch nur als ausführendes Glied fungiert.
Diese Rolle macht die Arbeiter*innen zu „fleischlichen Marionetten“ eines Systems, das Arbeitsbedingungen und Entlohnung nach eigenem Gutdünken bestimmt. Das Systems der Gig Economy verschärft so das Phänomen der „Chickenization“. Bei Plattformen wie DoorDash oder Uber steuern Apps minutiös jeden Schritt und jede Handlung der Fahrer*innen, während die tatsächliche Vergütung und Fairness der Arbeitsergebnisse bewusst intransparent bleiben. Fahrer*innen erfahren häufig erst nach Beendigung einer Aufgabe den genauen Lohn, was die individuelle Verhandlungsmacht untergräbt und Verstöße gegen faire Arbeitsstandards befördert. Diese Arbeitsrealität ist für viele ein Dilemma, das nicht einfach durch Ausstieg aus der Plattform gelöst werden kann.
Die Arbeitsmärkte sind ungleichgewichtig: Auf der Seite der Firmen steht eine konsolidierte Marktmacht, während die einzelnen Fahrer*innen oder Dienstleister*innen atomisiert, also dispers, agieren. Daraus resultiert eine anhaltende Lohn- und Machtverschiebung zugunsten der Unternehmen. Um diese Entwicklung zu durchbrechen, erweisen sich kollektive Organisationen und neue Formen der Vernetzung als entscheidend. Gewerkschaften und Arbeiter*innenbewegungen sind trotz Jahrzehnten an Widerständen und Restriktionen wieder auf dem Vormarsch. Moderne Organisierung nutzt digitale Nachrichtenplattformen und Apps, um die Arbeiter*innen besser zu mobilisieren und ihre Stimmen zu bündeln.
Solche Technologien sind nicht nur effektiv, sondern auch notwendig, wenn die Arbeitgeberseite ihre Kontrolle durch ausgefeilte algorithmische Überwachung immer weiter intensiviert. Eine der innovativsten Gegenbewegungen sind „Gegen-Apps“ wie Para, die speziell für Gig-Arbeiter*innen entwickelt wurden. Para hebt die Algorithmen knacksicherer Unternehmen auf, indem es verborgene Informationen sichtbar macht – zum Beispiel die tatsächliche Gesamtvergütung einer Fahrt bei DoorDash, die von der Plattform sonst bis nach Abschluss verborgen bleibt. Mit solchen Tools können Arbeiter*innen bessere Entscheidungen treffen und vermeiden es, sich auf unrentable Aufgaben einzulassen. Langfristiges Ziel solcher Technologien ist nicht lediglich Transparenz, sondern eine Umkehr des Machtverhältnisses: Eine Auktion, in der Unternehmen um die Dienstarbeit der Fahrer*innen konkurrieren und umgekehrt nicht mehr die Arbeiter*innen im Gebot um den niedrigsten Lohn gegeneinander ausgespielt werden.
So könnte die Gig Economy auf eine gerechtere Basis gestellt werden, die die wirtschaftliche Anerkennung der Arbeit sicherstellt. Darüber hinaus gehen viele Initiativen über reine Informationsfreiheit hinaus. Es entstehen Formen des kollektiven Widerstands wie die Bewegung #DECLINENOW, bei der Fahrer*innen sich über Onlineforen zusammenschließen, um nur Aufträge über einer bestimmten Vergütungsschwelle anzunehmen. Dieser koordinierte Verzicht zwingt die Algorithmusseite, die Auszahlung zu erhöhen, um genügend Arbeitskräfte zu gewinnen – ein beeindruckendes Beispiel von kollektiver Verhandlungsmacht in einer digital überformten Arbeitswelt. Technisch versierte Fahrer*innen nutzen darüber hinaus sogenannte „Tuyul-Apps“, die die vom Unternehmen vorgegebenen Algorithmen weiter umgehen und die GPS-Daten manipulieren, damit sie nicht gezwungen sind, zum Beispiel gefährliche Verkehrssituationen aufzusuchen, um einen Auftrag zu generieren.
Was einmal ein pragmatischer Trick war – wie das Aufhängen von Handys im Baum vor dem Lagerhaus –, wurde durch maßgeschneiderte Software zu einer echten Gegenmacht. Diese Vielfalt an Gegenstrategien zeigt, dass sich Arbeiter*innen nicht passiv den Algorithmen ausliefern. Einen ähnlichen Kampf führen auch Online-Creator, deren Einkommen von algorithmischer Sichtbarkeit abhängt. Sie verwenden Werkzeuge wie „Tracking Exposed“, um Analyse-Plugins zu nutzen, die helfen, Empfehlungsmechanismen bei Plattformen wie YouTube oder TikTok zu verstehen und zu beeinflussen. Ziel ist hier ebenfalls, algorithmische Willkür durch Transparenz und Steuerbarkeit zurückzudrängen.
Die Verflechtung von Überwachung und Arbeitskontrolle ist zudem kein rein wirtschaftliches Problem. Aktuelle Entwicklungen wie „Bossware“ – Überwachungssoftware, die am heimischen Arbeitsplatz Gespräche, Blickbewegungen und Bildschirmaktivitäten kontrolliert – drohen, die ganze Arbeitnehmerschaft zu „chickenized reverse-centaurs“ zu machen. Daher ist die Auseinandersetzung um Algorithmustransparenz und digitale Mitbestimmung von enormer gesellschaftlicher Tragweite. Der Kampf um faire Arbeitsbedingungen wird zunehmend ein Kampf um den Zugriff auf und die Kontrolle über die Algorithmen selbst. Nur wenn Arbeiter*innen die Mittel und Werkzeuge besitzen, um diese Algorithmen zu verstehen und zu beeinflussen, kann eine angemessene Balance zwischen Effizienzgewinnen und sozialer Gerechtigkeit hergestellt werden.