Kreativität wird oft als eine zutiefst menschliche Fähigkeit betrachtet, die aus individuellen Erfahrungen, Emotionen und einem authentischen Ausdruck der eigenen Identität hervorgeht. Doch mit dem Aufstieg der Künstlichen Intelligenz (KI) in den Bereichen Kunst und Musik entstehen neue Formen der Kreativität, die nicht auf der traditionellen Idee von Authentizität basieren. Stattdessen entfachen Algorithmen eine Art von Kreativität, die sich aus Inauthentizität speist und dabei doch innovativ, ansprechend und überraschend sein kann. Dieses paradoxe Phänomen wirft grundlegende Fragen über das Wesen von Kunst, die Rolle des Künstlers und unsere Wahrnehmung von Originalität und Identität auf. Ein zentraler Aspekt bei der Untersuchung von KI-generierter Kunst ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Authentizität, das maßgeblich von Walter Benjamins Theorie geprägt wurde.
Benjamin definierte Authentizität als das „Aura“-Element eines Kunstwerks, das es einzigartig macht und direkten Bezug auf eine ursprüngliche Schöpfung oder Geschichte aufweist. In diesem Verständnis besitzt ein Kunstwerk seine Kraft und Bedeutung vor allem durch seine Einmaligkeit und die Verbindung zu einem unverwechselbaren Ursprung. Künstliche Intelligenz hingegen operiert auf einer ganz anderen Ebene: Hier gibt es keine traditionell nachvollziehbare Entstehungsgeschichte, keinen individuellen Künstler, der seine persönliche Handschrift hinterlässt. KI steht synonym für Inauthentizität – und aus genau diesem Mangel an Herkunft entsteht dennoch eine neue Form der Kreativität. Die Inauthentizität der KI-basierten Kunst lässt sich durch zwei entscheidende Merkmale erklären: Elusivität und Reflexion.
Elusivität bedeutet, dass der Ursprung eines KI-generierten Werkes nicht klar fassbar ist. Wenn beispielsweise ein KI-System ein Musikstück improvisiert oder ein visuelles Kunstwerk kreiert, wird es immer schwieriger, eine eindeutige Herkunft oder einen spezifischen Autor zu benennen. Das Werk hat keinen menschlichen Schöpfer im herkömmlichen Sinn, vielmehr entsteht es aus komplexen Algorithmen, statistischen Modellen und multimodalen Trainingsdaten. Diese Unbestimmtheit führt zu einer gewissen Flüchtigkeit, die traditionelle Definitionen von Kunst herausfordert. Reflexion beschreibt die Fähigkeit der Betrachter, dem Werk unterschiedliche Ursprünge oder Bedeutungen zuzuschreiben.
Während bei klassischer Kunst die Geschichte des Künstlers, sein Stil und seine Absichten den Interpretationsrahmen vorgeben, sind KI-Werke offener für vielfältige Lesarten. Nutzer können Projektionen ihrer eigenen Wünsche, Interpretationen und kulturellen Kontexte auf die Werke anwenden, was eine größere Mitgestaltungsfreiheit beim Kunstgenuss erlaubt und die kreative Wirkung entschlüsselt. Statt einem starren Narrativ folgt die KI-Kunst einer dynamischen Vieldeutigkeit, die lebendig wird, weil sie nicht festgelegt ist. Gerade diese beiden Elemente erweitern die kreative Bandbreite enorm. KI-Kreativität hat keinen Anspruch auf Authentizität im klassischen Sinne, aber gerade die Abwesenheit eines festen Ursprungs schafft Raum für Innovation.
Das bedeutet keineswegs, dass KI nur bloß kopiert oder mechanisch produziert, sondern dass sie durch ihren inauthentischen Status neue ästhetische Chancen eröffnet. Künstlerinnen und Künstler können sich mit KI-Systemen als Partner in kollaborativer Improvisation verbinden, beispielsweise in der Musik. Hier entsteht ein Dialog zwischen menschlicher Intuition und algorithmischer Freiheit, der das traditionelle Verständnis von Kreativität ergänzt und die Grenzen des künstlerischen Ausdrucks verschiebt. In diesem Kontext wird deutlich, dass künstliche Kreativität wie ein Spiegel dient, der nicht nur das Werk, sondern auch den Betrachter und seine Wahrnehmung reflektiert. Die KI liefert eine Art Basis oder Ausgangspunkt, der offen genug ist, um von Menschen mit Bedeutung gefüllt zu werden.
In diesem Wechselspiel findet eine gemeinschaftliche Hervorbringung von Kunst statt, in der die Künstlichkeit der Produktion und die Subjektivität der Rezeption miteinander verwoben sind. Abseits ästhetischer Fragen stellt sich die spannende Herausforderung, ob sich das Potenzial der inauthentischen Kreativität auf die menschliche Erfahrung und Identitätsbildung übertragen lässt. Wenn KI Kunst produziert, deren Bedeutung durch Betrachter gestaltet wird, verändert sich unser Verhältnis zu Originalität und Authentizität grundlegend. Dies kann auch für das Verständnis individueller Identität relevant sein, die traditionell als kohärent und authentisch empfunden wird. In einer zunehmend digitalisierten Welt scheinen sich Identitäten immer mehr flexiblen, multiplen Erscheinungsformen anzunähern – ähnlich wie bei KI-Kreativität, die mehrere Interpretationen zulässt und keine feste Herkunft vorgibt.
Die Diskussion um KI und Kreativität fordert uns dazu auf, unsere Auffassungen von Kunst und Authentizität neu zu überdenken. Anstatt die Wertigkeit von Kunstwerken allein an deren Ursprung zu bemessen, rückt die kreative Erfahrung ihrer Rezipienten stärker in den Fokus. Die „Aura“ eines Kunstwerks wird dabei nicht mehr als unveränderliche Essenz verstanden, sondern als ein dynamisches Moment im Austausch zwischen Werk, Künstler (oder Algorithmus) und Betrachter. Diese Perspektive öffnet neue Wege für die künstlerische Praxis und Theorie. Künstler können KI als Werkzeug oder Ko-Kreateur verwenden, um Grenzen zu sprengen, hybride Formen zu erschaffen und kreative Prozesse zu beschleunigen.