Die Schrift ist seit jeher mehr als nur ein Werkzeug der Kommunikation – sie ist ein fundamentales Element menschlicher Zivilisation und Kultur. Die Art und Weise, wie wir lesen und schreiben, hat nicht nur unsere individuelle Identität geprägt, sondern auch die Struktur gesellschaftlicher Machtverhältnisse tief beeinflusst. Doch in einer Ära, die von Künstlicher Intelligenz (KI) geprägt wird, sehen wir einen ernsthaften Wandel im Verhältnis von Menschen, Technologie und Schriftsprache. Die historische Entwicklung von Alphabet und Schrift, gekoppelt mit der sozialen Rolle des Staates, liefert wichtige Einsichten, die uns helfen können, die Herausforderung der Digitalisierung und des KI-Zeitalters besser zu verstehen und zu gestalten. Die Erfindung der Schrift vor rund fünftausend Jahren im mesopotamischen Raum, insbesondere die Keilschrift in Uruk, war kein unschuldiger Akt der kulturellen Erweiterung.
Vielmehr war sie ein mächtiges Instrument der Herrschaft und Kontrolle. Diese ersten Schriftsysteme dienten der Verwaltung, dem Erfassen von Schulden, Arbeitskräften und Waren und damit der Sichtbarmachung und Steuerung von Gesellschaften durch zentrale Autoritäten. Schrift war damals das Produkt einer kleinen Klasse von Schreiberinnen und Schreibern, die ihre Macht durch das exklusive Wissen um visuelle Symbole ausübten. Es handelte sich um eine asymmetrische Informationsmacht, die weit entfernt war von einem inklusiven Zugang zu Wissen oder Demokratie. Die demokratische und breit zugängliche Form der Schrift, wie wir sie heute kennen, ist das Ergebnis langer und komplexer gesellschaftlicher Prozesse.
Die Entwicklung alphabetischer Schriftsysteme, die lediglich eine begrenzte Anzahl von Zeichen nutzen und eine direkte Verbindung zu gesprochener Sprache herstellen, ebnete den Weg für eine breitere gesellschaftliche Teilhabe an Schriftkultur. Doch erst mit Innovationen wie der Erfindung des Buchdrucks und dem Ausbau öffentlicher Bildung wurde Lesen und Schreiben allmählich zur allgemeinen Fähigkeit – zur Basis gesellschaftlicher Teilhabe, kognitiver Entwicklung und Selbsterkenntnis. Die kognitiven Voraussetzungen, die zum Lesen nötig sind, sind keine Naturgegebenheit, sondern ein heftig umkämpfter und fragiler neurologischer Prozess. Basierend auf Erkenntnissen der Neurowissenschaften zeigt sich, dass das Lesen das Gehirn dazu zwingt, Ursprungsfähigkeiten wie die Spiegelung visueller Formen zu „überschreiben“ und dafür energieintensive neuronale Netzwerke für visuelle Sprachverarbeitung aufzubauen. Diese Komplexität macht die fließende Lesefähigkeit zu einem kostspieligen kulturellen Erbe, das kontinuierliche Förderung und Aufmerksamkeit benötigt.
Wenn diese Investitionen fehlen, oder wenn alternative, weniger anspruchsvolle Kommunikationsformen dominieren, ist die Gefahr groß, dass die Schriftkultur zurückgedrängt wird und wieder wenigen Spezialist:innen vorbehalten bleibt. Im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz erleben wir nun eine Art Wiederholung und Transformation dieses historischen Prozesses. KI ist heute ein Werkzeug, das nicht mehr nur Informationen festhält, sondern Menschen und ihre Handlungen liest, interpretiert und steuert – mit einer Reichweite und Präzision, die bisher unbekannt war. Ähnlich wie die Keilschrift in Uruk dazu beitrug, Menschen lesbar und kontrollierbar zu machen, transformiert KI heute unser kollektives Verhalten in quantifizierbare Daten, mit denen neue Formen von Macht entstehen. Dies erfolgt meist intransparent und wird von einer globalen Elite kontrolliert, deren ökonomisches Interesse in der extrahierbaren Aufmerksamkeit und Verhaltensvorhersage liegt.
Diese Entwicklung wirft fundamentale Fragen auf hinsichtlich des gesellschaftlichen Zusammenlebens, der individuellen Autonomie und der Zukunft des kognitiven Gemeingutes. Historisch gesehen entstand aus der Instrumentalisierung der Schrift durch den Staat erst nach Jahrhunderten eine offene, demokratischere Kultur des Lesens und Schreibens. Ähnliche Chancen könnten sich im Umgang mit KI ergeben – allerdings unter erheblichem Zeitdruck und da digitale Systeme deutlich schneller und umfassender wirken als analoge Schriftsysteme. Ein zentrales Problem besteht darin, dass gesellschaftliche und technologische Entwicklungen oft auf der Ebene von unmittelbarer Effizienz, Geschwindigkeit und Nutzerfreundlichkeit selektieren. Bei Texten ermöglicht das Lesen jedoch viel mehr als bloße Informationsaufnahme: Es fördert Empathie, komplexes abstraktes Denken über längere Zeiträume, die Fähigkeit zum reflektierten Gegenüberstellen verschiedener Perspektiven und eine innere Dialogfähigkeit.
Diese sekundären Effekte der Schrift sind nicht einfach messbar und daher leicht gefährdet in einer Zeit, in der ökonomische Kennzahlen dominieren. Die Gefahr besteht, dass wir Werkzeuge etablieren, die zwar kognitiv zugänglich und effizient sind, jedoch die tiefgreifenden kulturellen und ethischen Qualitäten der Schrift nicht transportieren oder sogar unterlaufen. Die derzeit geprägte „Aufmerksamkeitsökonomie“ und der „Algorithmische Überwachungsstaat“ sind Ausdruck eines Prozesses, in dem Aufmerksamkeit ebenso externalisiert und gesteuert wird wie einst das Gedächtnis durch die Schrift. Während das Schreiben unserer Erinnerung eine externe Stütze gab, welche die menschliche Kapazität erweiterte, legt KI heute fest, worauf wir achten und wie wir wahrnehmen. Diese systemische Steuerung kann unbemerkt und undemokratisch erfolgen, wenn wir die symbolischen und institutionellen Strukturen nicht aktiv mitgestalten und demokratisieren.
Vor diesem Hintergrund wird klar, dass der Erhalt und die Weiterentwicklung der literalen Kultur nicht allein eine Frage der Bildung oder des Zugangs zu Text ist, sondern eine gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe von höchster Priorität. Gesellschaften müssen darüber nachdenken, wie KI als Werkzeug nicht nur Effizienz und Informationsverarbeitung verbessern kann, sondern auch wie sie als kollektive Infrastruktur genutzt werden kann, die menschliche Autonomie, Reflexion und gegenseitige Anerkennung fördert. Fragen nach der Zugänglichkeit digitaler Systeme, ihrer Governance, der Transparenz ihrer Wirkmechanismen und letztlich ihrer Einbettung in demokratische Institutionen müssen dringend diskutiert werden. Das Ziel sollte sein, KI von einer zentralisierten, extraktiven Macht zu einer dezentralisierten, gemeinschaftlichen Ressource zu transformieren, die Menschen unterstützt, anstatt sie zu verdrängen. Dabei können Lehren aus der Geschichte der Schrift helfen: Was einst eine exklusive Technologie eines kleinen Elitezirkels war, konnte durch Innovationen, Bildung und gesellschaftliche Kämpfe zu einem Allgemeingut werden, das umfassende kognitive und kulturelle Teilhabe möglich machte.
Ähnliches sollte heute für KI gelten. Doch dafür bleibt wenig Zeit. Was Jahrhunderte für die Verbreitung von Lesen und Schreiben brauchte, spielt sich heute in wenigen Jahren ab. Der Umgang mit KI muss deshalb schnell, klug und gemeinschaftlich gestaltet werden. Wir brauchen klare ethische Leitlinien und politische Strategien, die nicht nur die messbaren Funktionen der Systeme im Blick haben, sondern vor allem die qualitativ wertvollen Wirkungen auf Psyche, Gesellschaft und Kultur schützen.
Die Saat für eine post-literale Welt ist gelegt, doch ob diese Welt bevölkert wird von reflektierten autonomen Individuen oder von manipulierter Masse, hängt von unserem verantwortungsvollen Handeln jetzt ab. Die Herausforderung besteht darin, die Errungenschaften literaler Kultur in neuen Formen zu bewahren und zugleich Potenziale der KI zu nutzen, um eine erneuerte, inklusive und freie geistige Umwelt zu schaffen. In einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Schreiben, Denken und maschineller Intelligenz zunehmend verschwimmen, ist es wichtiger denn je, dass wir nicht nur Nutzerinnen und Nutzer dieser Technologien sind, sondern auch Bewahrerinnen und Bewahrer einer kognitiven Gemeinschaft, die Freiheit, Kreativität und Menschlichkeit ermöglicht. Das Wirken am „Seelenhandwerk“ mit Werkzeugen des Staates und der Technologie fordert ein tiefes Verständnis der Vergangenheit und einen mutigen Blick in die Zukunft – um eine Welt zu formen, in der KI nicht unsere Individualität ersetzt, sondern erweitert und schützt.