Die Implementierung moderner digitaler Technologien im Gesundheitswesen verspricht theoretisch enorme Fortschritte bei der Patientenversorgung und Verwaltungsprozessen. Im Vereinigten Königreich steht Palantir, ein US-amerikanisches Softwareunternehmen bekannt aus geheimdienstlichen Anwendungen, im Rampenlicht als Anbieter einer neuen Datenplattform für den NHS (National Health Service). Mit einem siebenjährigen Vertrag über 330 Millionen Pfund wurde Palantir beauftragt, die sogenannte Federated Data Platform (FDP) zu leiten. Sie soll die vernetzte Datenverarbeitung innerhalb der NHS-Trusts verbessern, die Zuständigkeiten innerhalb der Organisationen bündeln und die Zusammenarbeit verschiedener Gesundheitsbereiche erleichtern. Doch der Enthusiasmus ist nicht einheitlich: Zahlreiche NHS-Krankenhäuser äußern Zweifel und Bedenken hinsichtlich der tatsächlichen Nützlichkeit der neuen Plattform.
Die Einwände kommen nicht von ungefähr. Leeds Teaching Hospitals Trust, einer der größten NHS-Trusts mit sieben Krankenhäusern und der Versorgung von etwa 1,5 Millionen Patienten pro Jahr, hat ausdrücklich erklärt, dass die Umsetzung der FDP in bestimmten Anwendungsfällen sogar zu einem Verlust an Funktionalität führen könnte. Schon bestehende Systeme innerhalb des Trusts erfüllen wichtige Aufgaben wie die Koordinierung ambulanter Versorgung, Validierung von Behandlungsreihenfolgen (Referral-to-Treatment, RTT) und Entlassungsplanung sehr gut. Nach eigenen Angaben bietet Palantirs Plattform derzeit weniger Vorteile als die lokal entwickelten Lösungen. Dies zeigt sich auch in einer offiziellen Korrespondenz, welche an NHS England gerichtet wurde.
Die Verwaltung des Trusts betont, dass sich das FDP-Team zwar zeitnah um Implementierungen bemüht, jedoch erst dann vollständig von der nationalen Lösung Gebrauch gemacht werden soll, wenn diese in Funktionsumfang die bestehenden Systeme übertrifft. Dies ist ein wichtiger Aspekt, denn die lokale IT-Infrastruktur ist oft maßgeschneidert auf regionale Bedürfnisse, Prozesse und gesetzliche Anforderungen – eine Herausforderung bei der Integration einer zentralen Datenplattform. Auch andere NHS-Trusts wie beispielsweise der Greater Manchester Integrated Care Partnership haben ähnliche Reserviertheit geäußert. Sie bewerten das Palantir-Angebot als weniger leistungsfähig im Vergleich zu ihrer eigenen, bereits etablierten Datenanalyse-Architektur. Berkshire Healthcare NHS Foundation Trust gibt sogar an, keine Pläne zu haben, sich der FDP-Umsetzung anzuschließen.
Die Befürchtungen beruhen nicht nur auf funktionalen Defiziten. Experten weisen auch auf rechtliche Unklarheiten hin, die mit der Plattform zusammenhängen. So sollen wesentliche Aspekte der Datenverarbeitung des FDP keine ausreichende juristische Grundlage besitzen, was in der sensiblen Gesundheitsdatenverarbeitung ein erhebliches Risiko darstellt. Die Anforderungen an Datenschutz, Datensicherheit und vertragliche Transparenz im NHS sind hoch und müssen bei jeder neuen technologischen Lösung erfüllt sein. Vor dem Hintergrund dieser Bedenken wirkt der aus Sicht vieler Kritiker hohe finanzielle Aufwand besonders problematisch.
Der NHS investierte bereits mehrere hundert Millionen Pfund in Palantir-Lösungen, unter anderem flossen beträchtliche Summen in Beratungsdienstleistungen von KPMG, die als Unterstützer der FDP-Implementierung fungierten. Trotz dieses Engagements gibt es noch immer keine einheitliche Akzeptanz oder flächendeckende Einführung. Palantir selbst verteidigt die Fortschritte und hebt hauseigene Erfolge hervor. Laut Aussagen des Unternehmens ist die Plattform in mittlerweile 72 NHS-Hospital-Trusts aktiv und soll nach und nach auf gemeinde- und spezialmedizinische Dienste erweitert werden. Die Versprechungen reichen von verbesserten Patientenpfaden über erhöhte Krankenhausproduktivität bis hin zur Behandlung einer größeren Patientenzahl.
Doch es bleibt die Frage, ob diese Vorteile tatsächlich so umfassend realisiert werden wie angepriesen. Ein weiterer Kritikpunkt liegt in der Beschaffenheit von Palantir als Unternehmen. Die Ursprünge bei einem CIA-finanzierten Risikofonds und die enge Verbindung zu US-Geheimdiensten haben bei Teilen der Öffentlichkeit und der Branchenbeobachter für Skepsis gesorgt. Zudem wird Palantir oft vorgeworfen, hinsichtlich Künstlicher Intelligenz und moderner Softwareentwicklung einen gewissen Hype zu bedienen, ohne durch messbare Innovationsvorsprünge zu überzeugen. Technisch betrachtet ist die Integration einer föderierten Datenplattform für eine Organisation in der Dimension des NHS eine enorme Herausforderung.
Die verschiedenen Vertrauensgebiete (Trusts) zeichnen sich durch unterschiedliche IT-Landschaften, Prozesse und Datenstandards aus. Ein zentrales Ziel der FDP ist es, diese Systeme effizient miteinander zu verknüpfen, so dass patientenbezogene Informationen sicher und in Echtzeit geteilt werden können. Jedoch erfordert dies erhebliche Anpassungen, standardisierte Schnittstellen und den Abbau siloartiger Systeme. Die Kritik, dass die neue Plattform bereits jetzt zu Funktionseinbußen führen könnte, weist darauf hin, dass einige Kernprozesse der Krankenhäuser durch die Standardisierung nicht ausreichend berücksichtigt werden oder die spezifischen Anforderungen nicht erfüllen. Gerade in Bereichen wie der ambulanten Versorgung oder der Entlassungsplanung sind hohe Flexibilität und Lokalknowhow erforderlich, da regionale Versorgungsstrukturen stark variieren können.
Aus Sicht vieler IT-Verantwortlicher im NHS ist das richtige Gleichgewicht von zentraler Steuerung und lokaler Autonomie entscheidend. Ein zu zentralistisches System kann die Innovationsfähigkeit der einzelnen Trusts einschränken und dadurch die Qualität der Versorgung gefährden. Die Zukunft des FDP hängt daher stark davon ab, wie es Palantir gelingt, auf die Kritik einzugehen, die Plattform an die bestehenden Systeme anzupassen und einen echten Mehrwert zu schaffen. Ebenso entscheidend ist die Einbindung und das Vertrauen der lokalen Gesundheitsverwaltungen und IT-Abteilungen. Nur mit einem offenen, kooperativen Ansatz und ausreichend Zeit für Entwicklung und Erprobung kann ein derart ambitioniertes Projekt erfolgreich sein.
Abschließend zeigt die aktuelle Debatte exemplarisch die komplexen Herausforderungen digitaler Transformation im Gesundheitswesen. Die Aussicht auf verbesserte Versorgung durch intelligente Datenverarbeitung ist vielversprechend, doch die technische Umsetzung, rechtliche Rahmenbedingungen und die Bedürfnisse der Anwender müssen sorgfältig abgestimmt werden. Der NHS steht vor einer kritischen Phase, in der er den Nutzen neuer Technologien beweisen muss, ohne vorhandene Systeme und die darin gewonnenen Erfahrungen zu vernachlässigen. Die Stimmen der Skeptiker aus dem Klinikalltag mahnen zu Realismus, praktischer Umsetzbarkeit und Transparenz, damit die Digitalisierung im britischen Gesundheitswesen langfristig erfolgreich und patientenzentriert gelingt.