Der Gedanke, dass ein Vogel die höchste Erhebung der Welt, den Mount Everest, überfliegen kann, schien lange Zeit nahezu unmöglich. Mit einer Höhe von fast 9 Kilometern über dem Meeresspiegel sind die Bedingungen auf dem Gipfel des Everest extrem herausfordernd. Der Luftdruck ist dort drastisch geringer, die Sauerstoffkonzentration nur rund 7 % im Vergleich zu den 21 % auf Meereshöhe. Für die meisten Tiere wäre ein Flug in solchen Höhen physiologisch eine enorme Herausforderung, wenn nicht gar unmöglich. Doch immer wieder gab es Berichte über Bartgänse, die genau dies meistern: Sie überfliegen das Dach der Welt und trotzen dabei den lebensfeindlichen Bedingungen des Himalajas.
Insbesondere ein Bericht aus dem Jahr 1953 sorgte für Aufmerksamkeit, als ein Bergsteiger eine Bartgans beobachtete, die offenbar den Everest überquert hatte. Wissenschaftlich galt diese Beobachtung lange als unwahrscheinlich, doch neue Forschungsergebnisse lassen diese Geschichten nun in einem ganz neuen Licht erscheinen. Forscher haben sich in einer außergewöhnlichen Studie darauf konzentriert, die Fähigkeiten der Bartgans wissenschaftlich zu überprüfen. Dazu züchteten sie 19 junge Bartgänse, die für ihre charakteristischen schwarzen Streifen auf dem Kopf bekannt sind. In einem großen Windkanal wurden die Vögel trainiert, während sie spezielle Rücksäcke und Gesichtsmasken trugen.
Diese Masken waren mit Sensoren ausgestattet, die Herzfrequenz, Blutsauerstoffgehalt, Temperatur und den Energieverbrauch überwachten. Die Sauerstoffkonzentration in den Masken konnte flexibel angepasst werden, um verschiedene Höhenstufen zu simulieren – von normaler Seehöhe bis hin zu extremen Bedingungen wie auf dem Mount Everest. Die Ergebnisse der Windkanalversuche waren faszinierend. Bei normalen Sauerstoffverhältnissen zeigten die Vögel erwartungsgemäß eine stabile körperliche Leistung. Doch als die Sauerstoffkonzentration auf das Niveau von etwa 7 % abgesenkt wurde, blieben Herzfrequenz und Flügelschlagrate überraschenderweise konstant, obwohl der Stoffwechsel leicht zurückging.
Das allein zeigt schon eine beeindruckende Anpassung, denn der Körper der Bartgans scheint auch bei Sauerstoffknappheit in der Lage zu sein, die erforderliche Leistung aufrechtzuerhalten. Besonders bemerkenswert war jedoch ein weiterer Befund: Die Vögel konnten offenbar ihre Körpertemperatur leicht senken, was es dem Blut erleichtert, Sauerstoff aufzunehmen. Diese Kühlung des Blutes ermöglicht es, selbst in nahezu sauerstoffleerer Luft effektiv zu atmen und Energie zu produzieren. Warum sind Bartgänse anderen Vögeln gegenüber so überlegen? Zum einen besitzen sie speziell angepasste Lungen, die größer und dünner sind. Diese ermöglichen ein tieferes Durchatmen und einen höheren Sauerstoffaustausch.
Zum anderen hat die Evolutionsgeschichte dieser Gänse ihnen ein verstärktes Herz-Kreislauf-System beschert. Ihr Herz ist größer, was mehr Blut und somit mehr Sauerstoff zu den Muskeln pumpt. Diese Kombination macht es möglich, dass die Bartgans nicht nur in großer Höhe fliegen kann, sondern dabei auch mit wenig Energie auskommt. Diese körperlichen Besonderheiten ermöglichen nicht nur extrem hohe Flüge, sondern vor allem auch die langen Wanderungen von bis zu 4000 Kilometern, die ihre Lebensweise prägen. Trotz der eindrucksvollen Ergebnisse konnten die Vögel in den Versuchen nicht lange bei den extremen Höhenbedingungen fliegen – selten länger als wenige Minuten.
Das lässt darauf schließen, dass die tatsächlichen Flüge über den Everest eine Kombination aus mehreren Faktoren beinhalten könnten, die im Windkanal schwer zu simulieren sind. Eventuell spielen natürliche Wetterbedingungen, Aufwinde sowie das strategische Fliegen entlang von Luftströmungen eine wichtige Rolle, die den Vögeln helfen, solche hochalpinen Reisen überhaupt erst möglich zu machen. Zudem sind die Bartgänse in der freien Natur an ihre langen Wanderungen bestens angepasst, ohne den Stress von Geräten oder Trainingsbedingungen, die die Dauer eines simulierten Fluges womöglich beeinflussen. Die Erkenntnisse der Studien gehen jedoch weit über die mythologische Vorstellung fliegender Vögel hinaus. Sie zeigen, wie Anpassung an extreme Umweltbedingungen auf physiologischer Ebene funktioniert.
Diese Forschung ist nicht nur spannend für Ornithologen und Biologen, sondern kann auch weitreichende Implikationen für andere Bereiche haben – von der Entwicklung von neuen Technologien bis hin zu medizinischen Anwendungen. So bieten die außergewöhnlichen Mechanismen der Sauerstoffaufnahme und -nutzung möglicherweise Inspirationen für die Behandlung von Menschen bei Sauerstoffmangel oder für Ausrüstung, die das Fliegen beziehungsweise Arbeiten in großen Höhen erleichtert. Die Bartgans gilt heute als das höchste fliegende Tier der Welt. Sie überquert mit beeindruckender Leichtigkeit Gebirgsketten und Hochplateaus, die für andere Arten unüberwindbar wären. Dabei zeigt sie dem Menschen, wie facettenreich und erstaunlich die Natur auf die Herausforderungen unserer Umwelt reagieren kann.
Ihre Flüge in Höhen von fast 9000 Metern sind ein beeindruckenes Beispiel dafür, welche Wunderwerke Evolution ermöglicht hat. Gleichzeitig rufen diese Entdeckungen dazu auf, die natürlichen Lebensräume und Wanderwege dieser Tiere zu schützen, damit sie auch in Zukunft ihre unglaublichen Flugleistungen vollbringen können. Insgesamt verdeutlichen die Windkanalversuche einen Durchbruch im Verständnis der bislang geheimnisvollen Fähigkeit der Bartgans, den Mount Everest zu überfliegen. Die Mischung aus ausgeklügelten physiologischen Anpassungen, effizienter Sauerstoffnutzung und körpereigener Temperaturregulation macht diesen Vogel zu einem wahren Meister des Hochgebirgsflugs. Die Forschung zeigt auch, dass trotz der Herausforderungen großer Höhen noch immer vieles unentdeckt über das Verhalten und die Fähigkeiten der Tiere in extremen Lebensräumen ist.
Die Bartgans wird weiterhin ein spannendes Forschungsobjekt bleiben, das uns tiefere Einblicke in die Anpassung an extreme Lebensbedingungen und das Zusammenspiel von Physiologie und Umwelt ermöglicht. Ihre Geschichte ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie Wissenschaft alte Mythen bestätigt und gleichzeitig neue Türen zu unverbrauchten Wissensgebieten öffnet.