Der Alterungsprozess ist ein komplexes Zusammenspiel biologischer, sozialer und umweltbedingter Faktoren, die das individuelle Wohlbefinden und die Lebenserwartung beeinflussen. Eine neue, verfeinerte Methode zur Messung der sogenannten "Pace of Aging" – der Geschwindigkeit, mit der jemand altert – bietet nun innovative Möglichkeiten, diesen Prozess besser zu verstehen und vorherzusagen. Diese Methode wurde am Columbia University Mailman School of Public Health in New York entwickelt und untersucht Veränderungen im menschlichen Körper über mehrere Systeme hinweg über eine längere Zeitspanne. Damit eröffnen sich neue Chancen für Forscher und politische Entscheider, altersbezogene Risiken wie chronische Krankheiten, kognitive Beeinträchtigungen, Einschränkungen in der Alltagsfähigkeit sowie vorzeitigen Tod gezielter zu erkennen und zu adressieren. Ein bedeutendes Problem bisheriger Studien war, dass sie den Einfluss von frühen Lebensphasen wie pränataler Versorgung und kindlicher Ernährung nicht klar von den tatsächlichen altersbedingten Veränderungen unterscheiden konnten.
Die neue Methode trennt erstmals diese Aspekte und liefert so präzisere Einsichten in den biologischen Alterungsprozess. Zudem erlaubt sie, den Einfluss von sozialen Faktoren und Lebensstil unabhängig von frühkindlichen Bedingungen zu evaluieren. Dies ist ein wesentlicher Fortschritt, da es Forschern ermöglicht, die Effekte gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und individueller Entscheidungen auf das Altern besser zu verstehen. Die Ergebnisse basieren auf Daten zweier großer Langzeitstudien, der amerikanischen Health and Retirement Study (HRS) und der englischen Longitudinal Study of Aging (ELSA). Diese Studien begleiten Menschen ab 50 Jahren über viele Jahre und sammeln umfassende Informationen zu Gesundheit, kognitiven Fähigkeiten, sozioökonomischem Status und familiären Beziehungen.
Es wurde dabei eine Kombination verschiedener Messwerte herangezogen, beispielsweise Blutwerte wie C-reaktives Protein, Cystatin-C und HbA1C, sowie physische Leistungsindikatoren wie Gleichgewicht, Griffkraft und Ganggeschwindigkeit. Die Daten werden in regelmäßigen Abständen erfasst, oft in den eigenen Wohnungen der Teilnehmer, und erlauben so eine realitätsnahe Bewertung der Gesundheitsentwicklung. Die Analyse von über 19.000 Teilnehmern zeigt deutliche Unterschiede in der Geschwindigkeit des Alterns. Besonders auffällig ist die Verbindung einer beschleunigten Alterung mit niedrigeren Bildungsniveaus, was soziale Ungleichheiten im Gesundheitsbereich verdeutlicht.
Menschen, die schneller altern, weisen ein deutlich höheres Risiko für chronische Erkrankungen, kognitive Einbußen, Behinderungen und einen frühzeitigen Tod auf, selbst wenn sie dem kalendarischen Alter nach gleich alt sind. Diese Erkenntnis unterstreicht, dass das biologische Alter eines Individuums oft anders verläuft als das numerische. Ursprünglich wurde die "Pace of Aging"-Methode mit Daten der Dunedin-Studie entwickelt, die Menschen ab dem jungen Erwachsenenalter longitudinal begleitet. Die Neuerung besteht darin, diese Methodik nun erfolgreich auf ältere Bevölkerungsgruppen in groß angelegten, repräsentativen Studien zu übertragen. Dies eröffnet eine enorme Bandbreite an Anwendungen – von der medizinischen Forschung bis hin zu sozialpolitischen Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit und der Lebensqualität älterer Menschen.
Neben der reinen medizinischen Perspektive hat die Forschung weitreichende soziale und wirtschaftliche Implikationen. Das Verständnis, wie unterschiedliche Lebensphasen, soziale Übergänge wie Ruhestand, das Übernehmen von Pflegeaufgaben oder der Verlust nahestehender Menschen den Alterungsprozess beeinflussen, ist essenziell. Damit können gezieltere Interventionen geplant werden, die weit über klassische Gesundheitsfürsorge hinausgehen. Eine der größten Stärken der neuen Messmethode ist die Kombination vergleichsweise einfacher klinischer und funktioneller Tests, die dennoch belastbare und aussagekräftige Prognosen über den weiteren Gesundheitsverlauf erlauben. Dies macht es möglich, die „Pace of Aging“ in verschiedenen Ländern und Populationen zu erfassen und so kulturelle, soziale und gesundheitsbezogene Unterschiede im Alterungsprozess besser zu verstehen.
Damit können zukünftige Studien weltweit vergleichbar gestaltet und internationale Vergleiche gezogen werden. Die Forschung wird von einer Vielzahl renommierter Wissenschaftler aus den USA, Großbritannien, Norwegen und weiteren Ländern getragen, was für die globale Bedeutung und Akzeptanz der Ergebnisse spricht. Finanzielle Unterstützung erhielt das Projekt unter anderem durch die National Institutes of Health und die Russel Sage Foundation. Insgesamt verdeutlichen die Erkenntnisse, dass das biologische Altern ein dynamischer Prozess mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist. Die Fähigkeit, diesen Prozess messbar zu machen, gibt Forschern, Kliniken und politischen Institutionen ein neues Werkzeug an die Hand, um die Herausforderungen einer älter werdenden Bevölkerung besser zu bewältigen.
Es unterstreicht zudem die Notwendigkeit, soziale Ungleichheiten und Lebensstilfaktoren stärker in den Blick zu nehmen, um gesundes Altern zu fördern. Langfristig kann die Nutzung der "Pace of Aging"-Methode dabei helfen, präventive Maßnahmen und individuelle Therapien gezielter zu entwickeln, die nicht nur das Leben verlängern, sondern vor allem die sogenannte Gesundheitsspanne – die Zeitspanne, in der Menschen gesund und selbstbestimmt leben – verbessern. Damit trägt die Forschung einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des komplexen Zusammenspiels zwischen Biologie, Umwelt und Gesellschaft im Kontext des Alterns bei und weist in eine Zukunft, in der Alter nicht mehr zwangsläufig mit Krankheit und Abbau verknüpft sein muss.