Die Erforschung des Verhaltens von Orang-Utans öffnet ein Fenster in die faszinierende Welt der kognitiven Entwicklung bei Menschenaffen. Besonders spannend ist dabei der Vergleich zwischen Wild-Orang-Utans, die in ihrem natürlichen Lebensraum leben, und solchen, die in Zoos gehalten werden. Ihr Umgang mit Objekten, ihr exploratives Verhalten und ihre Fähigkeit zur Problemlösung unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht und zeigen, wie stark soziale und ökologische Umwelteinflüsse das Verhalten und die geistige Entwicklung prägen. Exploratives Verhalten, insbesondere die gezielte Manipulation und Untersuchung von Gegenständen, ist ein entscheidender Faktor für die kognitive Entwicklung bei Orang-Utans. In der Forschung wird dieses Verhalten häufig als „Exploratory Object Manipulation“ (EOM) bezeichnet.
EOM umfasst eine Vielzahl von Aktivitäten, bei denen die Tiere Objekte mit den Händen, dem Mund oder anderen Körperteilen sorgfältig untersuchen, formen, zerlegen oder kombinieren, ohne dabei Nahrung aufzunehmen oder Nester zu bauen. Bei Orang-Utans aus freier Wildbahn findet man typischerweise eine Reihe von natürlichen Objekten, mit denen sie interagieren können, etwa Äste, Blätter, Rinde oder Früchte. Diese Objekte sind in ihrer Art relativ konstant und oft mit den üblichen Lebensbedingungen verbunden. Ihre Explorativen Handlungen sind dabei eng an die konkreten Anforderungen im Wald gebunden, beispielsweise dem Aufsuchen von Nahrung oder Schutz. Wild-Orang-Utans verbringen die meiste Zeit in den Bäumen, was ihre Handlungsfreiheit in der Manipulation von Objekten einschränkt, da sie sich meist an Ästen festhalten müssen und oft nur eine Hand frei ist.
Demgegenüber erleben Orang-Utans in Zoos eine ganz andere Umwelt. Sie haben oft sicheren Zugang zu vielseitigen, von Menschen bereitgestellten Objekten, darunter Spielsachen, Werkzeuge oder spezialisierte Bereicherungen, die sowohl physisch als auch mental stimulierend sind. Im Zoo verbringen Orang-Utans auch mehr Zeit am Boden, wodurch sie beide Hände freier nutzen können, um Objekte zu inspizieren und zu manipulieren. Die Vielfalt und Komplexität der Gegenstände, mit denen sie in Berührung kommen, ist meist deutlich höher als in der Wildnis. Untersuchungen zeigen, dass orangutans in zoologischen Einrichtungen insgesamt häufiger exploratives Verhalten zeigen als ihre wildlebenden Artgenossen.
Die Erfassung von mehreren tausend EOM-Ereignissen an Dutzenden von Tieren belegt, dass der Umgang mit Objekten in Zoos intensiver und vielfältiger ist. Das heißt, sie manipulieren Gegenstände nicht nur öfter, sondern verbinden bei der Erkundung auch mehrere Objekte gleichzeitig, was auf komplexeres, kombiniertes Verhalten hindeutet. Darüber hinaus beobachten Forscher, dass Zoo-Orang-Utans mehr verschiedene Handlungen und mehr Körperteile bei der Erkundung einsetzen, was auf eine breitere Palette von Fähigkeiten und Variationen im Verhalten hinweist. Diese Unterschiede lassen sich teilweise durch die unterschiedlichen Lebensumstände erklären. Wild-Orang-Utans müssen viel Energie für die Nahrungssuche und die Aufmerksamkeit gegenüber Fressfeinden aufwenden, was ihre Zeit und Bereitschaft für ausgedehnte Experimentierphasen einschränkt.
Ihre Umgebung ist stark durch natürliche Bedingungen geprägt, die wenig Abwechslung bieten. Der Zoo hingegen ist eine sichere Umgebung mit konstanter Nahrungsversorgung, die Orang-Utans mehr Muße lässt, sich ihrem Spieltrieb und der Objektmanipulation zu widmen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die soziale Stimulation. Im Zoo stehen Orang-Utans in engerem Kontakt mit Menschen, die sie beobachten, betreuen und fördern. Dieser menschliche Einfluss geht oft mit einer gezielten Bereicherung einher, bei der gezielt neue Objekte und Herausforderungen angeboten werden, die die geistigen Fähigkeiten aktivieren.
Die Kombination aus sozialer Nähe, mentaler Herausforderung und reichhaltiger, abwechslungsreicher Umwelt führt wahrscheinlich zu einer höheren kognitiven Aktivität und einem stärkeren explorativen Motiv. Erwähnenswert ist, dass die Unterschiede im explorativen Verhalten nicht bedeuten, dass Zoo-Orang-Utans einfach „intelligenter“ oder „fähiger“ sind als Wild-Orang-Utans. Vielmehr zeigt die Forschung, dass das Potenzial für komplexes Verhalten bei Orang-Utans in Gehegen stärker ausgeprägt zutage tritt oder besser gefördert wird. Dies weist auf eine hohe plastische Entwicklungsfähigkeit hin, bei der die Umwelt maßgeblich die Manifestation kognitiver Kompetenzen beeinflusst. Wild-Orang-Utans zeigen also nur einen Teil ihrer Fähigkeiten, moduliert durch die Anforderungen und Möglichkeiten ihres natürlichen Lebensraums.
Ein erstaunliches Ergebnis ist, dass das Alter, in dem Orang-Utans bestimmte explorative Handlungen erstmals zeigen, in beiden Lebensräumen vergleichbar ist. Dies deutet darauf hin, dass grundlegende neuroentwicklungsbedingte Sequenzen für das Erlernen neuer Fähigkeiten relativ festgelegt sind. Die Umwelt beeinflusst demnach eher die Häufigkeit und Vielfalt der gezeigten Handlungen, weniger deren zeitlichen Beginn. Für junge Orang-Utans spielen Explorationsverhalten und Objektmanipulation eine wichtige Rolle in der Lernphase. Ähnlich wie bei menschlichen Kindern steigt das Interesse an Objekten früh stark an und erreicht in den ersten Lebensjahren seinen Höhepunkt.
Danach verändert sich die Art der Exploration in ihrer Komplexität und Zielgerichtetheit. Durch das Erkunden entwickeln die Jungtiere motorische Fähigkeiten, erlangen Einblicke in physikalische Eigenschaften von Gegenständen und erwerben Fertigkeiten, die für das spätere Überleben und Problemlösen entscheidend sind. Der Einfluss des Captivity-Effekts auf EOM bringt auch wichtige Implikationen für die Wissenschaft mit sich. Viele kognitive Untersuchungen und Tests an Menschenaffen werden in zoologischen Einrichtungen durchgeführt, um Evolution und Entwicklung des menschlichen Geistes besser zu verstehen. Die Erkenntnis, dass Zoo-Umgebungen die Ausprägung von explorativem Verhalten deutlich verändern, mahnt zur Vorsicht bei der Interpretation solcher Studien.
Kognitive Leistungen von Zoo-Tieren sind nicht zwangsläufig direkt auf wilde Populationen übertragbar. Gleichzeitig eröffnen solche Unterschiede Chancen, um das kognitive Potenzial der Art besser zu erforschen, da in captivity oft Fähigkeiten sichtbar werden, die im natürlichen Umfeld kaum genutzt werden. Aus einer perspektivischen Sicht trägt der Vergleich von Wild- und Zoo-Orang-Utans wesentlich zum Verständnis bei, wie Umweltfaktoren die ontogenetische Entwicklung formen. Er unterstreicht, wie wichtig es ist, sowohl natürliche als auch künstliche Lebensräume bei der Erforschung von kognitiven Fähigkeiten miteinzubeziehen. Die erweiterte Vielfalt an Erfahrungen, die Orang-Utane im Zoo sammeln können, fördert ihre geistige Flexibilität und vielleicht auch ihr Innovationsvermögen, was wiederum Rückschlüsse auf die Evolution der Intelligenz bei Primaten zulässt.