Designsysteme sind in der modernen Software- und Produktentwicklung unverzichtbar geworden. Sie schaffen eine einheitliche Grundlage für Design, Entwicklung und Zusammenarbeit, indem sie wiederverwendbare Komponenten, Richtlinien und Muster bereitstellen. Dabei erfolgt die Organisation anerkannter Designs jedoch traditionell in einer streng hierarchischen, top-down-Struktur. Diese Struktur wird von den Maintainer-Teams vorgegeben, die Kategorien und Unterkategorien festlegen, um Inhalte gezielt und kontrolliert bereitzustellen. Doch wie effektiv ist dieses starre Kategoriensystem wirklich für die vielfältigen Nutzergruppen, die tagtäglich mit diesen Systemen interagieren? Hier kommt die Idee der Folksonomie ins Spiel – eine innovative und partizipative Methode zur Organisation von Designsystemen, die das Potenzial hat, konventionelle Herangehensweisen grundlegend zu verändern.
Die herkömmliche Organisation von Designsystemen lebt von klar definierten Kategorien und Unterkategorien, die von Expertenteams erarbeitet werden. GitHubs Primer oder Shopifys Polaris sind typische Beispiele für diese Struktur. Sie ordnen Inhalte in Gruppen wie „Getting Started“, „UI Patterns“ oder „Components“ ein und bieten so einen geordneten Zugang zur Designsystemwelt. Doch diese Einordnung bringt eine komplexe Herausforderung mit sich: den Zwang zur Einordnung jedes Inhalts in eine einzelne Kategorie. Das führt oft zu einer inhärenten Tyrannei der Kategorien, bei der viele Nutzer mit ihren individuellen Denkmodellen und Suchmustern Schwierigkeiten haben, relevante Informationen schnell und intuitiv zu finden.
Die Folge ist eine Einschränkung der Nutzererfahrung und damit eine potenzielle Barriere für die Annahme und Anwendung des Designs. Jeder Mensch bringt einen eigenen Wissens- und Erfahrungshintergrund mit, wenn er an ein Designsystem herangeht. Das kann sich in der Art zeigen, wie man bestimmte Komponenten nennt, wie man sie nutzt oder welche Zusammenhänge man sieht. Das bedeutet, dass ein starres hierarchisches Modell zwangsläufig nicht für alle Nutzer optimal passt. Der Bruch zwischen den verschiedenen mentalen Modellen erschwert die Wiederverwendung von Komponenten, führt zu zusätzlichem Aufwand bei der Einarbeitung und kann sogar die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Teams behindern.
Dabei ist es nicht nur ein Problem der Struktur, sondern auch der Begrifflichkeiten. Unterschiedliche Bezeichnungen für dieselben Komponenten, Variationen in der Namensgebung von Props oder Tokens und die fehlende einheitliche Nomenklatur verstärken diese Reibungen und erschweren die Orientierung innerhalb von Designsystemen zusätzlich. Zwar können effektive Suchfunktionen diese Schwierigkeiten reduzieren, aber sie lösen nicht das grundsätzliche Problem der Organisation und der Vielfalt der Nutzerperspektiven. Hier setzt das Konzept der Folksonomie an: Anders als bei traditionellen Taxonomien, bei denen die Kategorisierung von einer Fachgruppe vorgegeben wird, erlaubt die Folksonomie es den Nutzern, selbständig Tags zu vergeben und somit Inhalte zu beschreiben und zu gruppieren. Diese Methode wird oft auch als „bottom-up“-Organisationsform bezeichnet, da sie nicht von einer zentralen Autorität, sondern von der Gemeinschaft der Nutzer ausgeht.
Dieses Modell kennt keine strikte Hierarchie, sondern fördert eine dynamische und flexible Struktur, die sich organisch an die Bedürfnisse und Gedankenwelten der Nutzer anpasst. Praktische Beispiele für Folksonomien finden sich bereits in vielen Bereichen: So nutzen Gmail-Nutzer Labels anstelle von Ordnern oder bei Social-Media-Plattformen sind Hashtags ein typisches Instrument, um Inhalte thematisch zu vernetzen. Auch in sozialen Lesezeichen-Diensten oder Fanfiction-Communities haben Folksonomien sich als äußerst nützlich erwiesen, um eine Vielzahl von Inhalten zu ordnen und zugänglich zu machen. Übertragen auf Designsysteme würde eine Folksonomie den Anwendern ermöglichen, eigene Tags zu vergeben und so Inhalte nach persönlichen Kriterien zu strukturieren. Das kann vieles umfassen: Lieblingskomponenten, besonders häufig verwendete Teile, veraltete oder noch zu testende Features, abhängige Komponenten sowie Kategorien basierend auf genutzten Technologien oder Statusinformationen wie „stabil“ oder „veraltet“.
Diese Flexibilität könnte nicht nur die Auffindbarkeit verbessern, sondern auch den Austausch zwischen Nutzern fördern, da interessante Gruppierungen und Gemeinsamkeiten sichtbar werden, die in klassischen Systemen verborgen blieben. Die Einführung von Folksonomien in Designsysteme ist zweifellos mit Herausforderungen verbunden. Eine offene Tagging-Welt kann auch Missbrauch, unübersichtliche Strukturen oder spammige Einträge nach sich ziehen. Damit eine solche Lösung funktioniert, sind klare Regeln für die Rechte der Nutzer, Prozesse zur Moderation und Mechanismen zum Melden problematischer Inhalte unerlässlich. Eine gut organisierte Curation, vorbildlich umgesetzt in zahlreichen Online-Communities, kann dabei sogar als gemeinschaftsstärkendes Element wirken.
Engagierte Nutzer fühlen sich eingebunden und motiviert, gemeinsam die Qualität des Systems zu verbessern und aktuelle Bedürfnisse sichtbar zu machen. Auch können kuratierte Beiträge und Empfehlungen eine positive Wechselwirkung auf die Wahrnehmung des Designsystems und seiner Maintainer haben. Ein weiterer spannender Ansatz ist die Kombination von Folksonomie mit modernen Technologien, etwa dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz oder Large Language Models. Diese können als Auto-Classifier fungieren und automatisch Tags generieren, die als Ausgangspunkt für Nutzer dienen oder die Suchbarkeit verbessern. Dennoch fehlt hier oft die menschliche Intention, die ein bewusst gesetzter Tag mitbringt.
Menschliche Nutzer können Bedeutung und Kontext vermitteln, die reine Algorithmen nicht in gleichem Maße erfassen. Die Symbiose aus menschlicher Kreativität und automatischer Unterstützung könnte das Beste aus beiden Welten bieten und Designsysteme noch nutzerfreundlicher machen. Trotz der weit verbreiteten Verwendung von Designsystemen ist die Organisation dieser Systeme noch lange kein abgeschlossenes Thema. Die Tradition folgt deutlichen Mustern, doch es gibt Raum für Innovation und Weiterentwicklung. Die Einbindung von Nutzerperspektiven durch Folksonomien könnte ein wichtiger Schritt sein, um die Akzeptanz zu verbessern, Suchprozesse zu erleichtern und die Vielfalt der Nutzerbedürfnisse besser abzubilden.
Zudem fördert sie eine kollaborative Kultur, die lebendig und anpassungsfähig ist – genau das, was moderne, interdisziplinäre Teams brauchen. Abschließend lässt sich sagen, dass die Betrachtung von Folksonomien als Organisationsprinzip für Designsysteme nicht nur ein theoretischer Gedanke bleibt, sondern ein praktisches Potenzial mit sich bringt. Die Öffnung des Systems für Nutzerbeteiligung, die Anerkennung vielfältiger mentaler Modelle und die Förderung einer dynamischen Struktur können Designsysteme revolutionieren und ihr volles Potenzial entfalten. Es bleibt spannend zu beobachten, ob und wie diese Idee in der Praxis Einzug hält – und welche neuen Wege sich so in der Zukunft der Designsysteme eröffnen.