Der Tarjuman al-Ashwaq, übersetzt als „Der Dolmetscher der Verlangen“, ist eines der faszinierendsten Werke des mittelalterlichen Sufi-Meisters Ibn al-Arabi. Als einer der produktivsten Gelehrten und Dichter der islamischen Mystik verfasste Ibn al-Arabi mehr als 150 Bücher. Dennoch blieb seine umfassende Schaffenspalette bis ins frühe 20. Jahrhundert hauptsächlich im arabischen Original verborgen. Die Übersetzung des Tarjuman al-Ashwaq durch Reynold A.
Nicholson im Jahr 1911 brachte dieses bedeutende Werk erstmals einem westlichen Publikum näher und öffnete damit ein Fenster in die komplexe Verbindung von Liebe, Spiritualität und Philosophie, die in diesem Buch verhandelt wird. Das Werk Tarjuman al-Ashwaq besteht aus einer Sammlung von Liebesgedichten, die auf den ersten Blick romantische Sehnsüchte zu einer jungen Frau ausdrücken. Doch bei näherer Betrachtung enthüllt sich eine tiefere und subtilere Bedeutungsebene. Ibn al-Arabi, als herausragender Denker der Sufi-Tradition, nutzte die Sprache der weltlichen Liebe als Metapher für die Hingabe und Sehnsucht nach dem Göttlichen. Die Poesie wird so zu einem Vehikel, das spirituelle Wahrheiten in ästhetisch ansprechender und zugleich verschlüsselter Form vermittelt.
Eine herausragende Eigenschaft des Tarjuman al-Ashwaq ist die umfangreiche Kommentierung, die Ibn al-Arabi zu jedem Gedicht beifügte. Diese Kommentare sind von unschätzbarem Wert, da sie dem Leser helfen, die verborgene Sufi-Botschaft zu entschlüsseln und die mehrschichtige Bedeutung der Texte zu erfassen. Im Kern handelt es sich bei diesem Werk keineswegs um eine bloße Sammlung von Liebesgedichten, sondern um eine philosophische Abhandlung, die den mystischen Weg und die spirituelle Erkenntnis erforscht. Die symbolische Sprache der Gedichte verwendet oft Bilder und Motive, die in der islamischen Mystik tief verwurzelt sind. Die Liebe wird nicht als weltliche Leidenschaft dargestellt, sondern als eine spirituelle Kraft, die das Herz des Suchenden erhebt und ihn zur Einheit mit Gott führt.
Zugleich reflektieren die Texte die Zerrissenheit und das Leiden, das mit dem menschlichen Verlangen nach dem Göttlichen einhergeht. Diese Ambivalenz zwischen Nähe und Ferne, Freude und Schmerz, wird mit großer poetischer Brillanz eingefangen und ist charakteristisch für die Sufi-Dichtung. Ibn al-Arabi selbst gilt als einer der bedeutendsten Philosophen und Mystiker in der Geschichte des Islams. Seine Lehren und Schriften haben die islamische Theologie, Philosophie und insbesondere die Sufi-Tradition nachhaltig geprägt. Im Tarjuman al-Ashwaq begegnet der Leser nicht nur einem Dichter, sondern auch einem geistigen Lehrer, der seine Gedanken auf künstlerische Weise vermittelt.
Die Verbindung von literarischer Schönheit und geistiger Tiefe macht das Werk zu einem einzigartigen Beispiel für die Verschmelzung von Literatur und Mystik. Die Übersetzung von Reynold A. Nicholson ist ein Meilenstein in der wissenschaftlichen Aufarbeitung ibn al-Arabis Texte. Nicholson war einer der ersten westlichen Orientwissenschaftler, die sich systematisch mit der Sufi-Literatur auseinandersetzten und deren Bedeutung ernst nahmen. Seine sorgfältige Übersetzungsarbeit und die Einbettung des Werkes in einen erklärenden Rahmen ermöglichten es einem breiteren Publikum, die komplexen Inhalte besser zu verstehen und die kulturellen wie spirituellen Kontexte nachzuvollziehen.
Obwohl der Ursprungstext auf Arabisch verfasst wurde, entfaltet der Tarjuman al-Ashwaq eine zeitlose und universelle Dimension, die über kulturelle Grenzen hinausreicht. Die in ihm angesprochenen Sehnsüchte und spirituellen Erfahrungen sind menschliche Konstanten, die heute ebenso relevant sind wie zu Zeiten Ibn al-Arabis. Seine Verschlüsselung der spirituellen Botschaft stärkt den intellektuellen Reiz des Werkes und lädt jeden Leser ein, tiefer in die Bedeutungen einzutauchen und persönliche Interpretation zu ermöglichen. Das Werk ist auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht von großem Interesse, da es stilistisch kunstvoll und von einer feinen Balance zwischen Offenbarung und Geheimnis geprägt ist. Die Form der Liebeslyrik dient nicht nur als ästhetische Gestaltung, sondern auch als strategisches Mittel, um spirituelle Wahrheiten vor den Unwissenden zu verbergen und Eingeweihte zur Reflexion anzuregen.
Diese vielschichtige Struktur fordert eine aufmerksame Lektüre und eröffnet den Zugang zu einer der hoch entwickeln spirituellen Kulturen des Mittelalters. In der heutigen Zeit gewinnt der Tarjuman al-Ashwaq dank seiner Integration von Poesie und Philosophie sowie seiner universellen Spiritualität erneut an Bedeutung. Er inspiriert nicht nur Theologen und Philosophen, sondern auch Künstler, Schriftsteller und jeden, der sich für die Verbindungen zwischen menschlicher Liebe und göttlicher Erfahrung interessiert. Die Sufi-Lehren Ibn al-Arabis, welche durch dieses Werk illustriert werden, zeigen einen Weg auf, wie innerer Wandel durch Hingabe, Liebe und Erkenntnis möglich ist. Zusammenfassend ist der Tarjuman al-Ashwaq ein Meisterwerk der islamischen Mystik, das weit über die Grenzen der traditionellen religiösen Literatur hinausreicht.
Seine poetische Sprache und die tiefe philosophische Substanz eröffnen reichhaltige Perspektiven auf das menschliche Sehnen nach dem Absoluten. Die sorgfältig kommentierte und übersetzte Fassung von Reynold A. Nicholson hat dieses wichtige Werk für die Nachwelt erhalten und zugänglich gemacht, sodass heute Leser weltweit das außergewöhnliche Erbe Ibn al-Arabis entdecken können und in dessen universaler Botschaft einen Anker für spirituelle Suche und Inspiration finden.