Kulte sind ein gesellschaftlich und psychologisch herausforderndes Phänomen, das viele Menschen fasziniert und gleichzeitig tief beunruhigt. Trotz der weit verbreiteten Nutzung des Begriffs im alltäglichen Sprachgebrauch ist die genaue Definition eines Kults oft unklar. Besonders in Zeiten zunehmender Polarisierung wird der Begriff manchmal unreflektiert gebraucht, etwa um bestimmte politische Gruppierungen zu stigmatisieren. Doch was macht eine Gemeinschaft oder Gruppe wirklich zu einem Kult? Und vor allem, wie können sich Betroffene daraus befreien? Um diese Fragen zu beantworten, lohnt es sich, genaue wissenschaftliche und psychologische Kriterien heranzuziehen sowie den Prozess der Ausstiegshilfe zu verstehen. Ein Kult lässt sich als eine destruktive Gemeinschaft charakterisieren, deren Mitglieder einem charismatischen Anführer oder einer Gruppe von Anführern folgen, die zunehmend zur wichtigsten Autorität werden.
Was anfangs vielleicht noch auf gemeinsamen Überzeugungen oder Prinzipien basierte, verwandelt sich so im Laufe der Zeit in eine dominierende, oftmals unerbittliche Kontrolle über die Gedanken und das Verhalten der Mitglieder. Diese Dynamik ist gekennzeichnet durch eine intensive Form der psychologischen Einflussnahme, die gezielt darauf abzielt, das Selbstbild des Individuums zu destabilisieren und es so zu einer gefügigen Haltung zu bewegen. Gleichzeitig ist die Ausbeutung – seien es ökonomische, sexuelle oder gesellschaftliche Formen – ein typisches Kennzeichen, das die Machtstrukturen innerhalb eines Kults aufrechterhält. Der amerikanische Psychologe Robert Jay Lifton hat in seiner Forschung zur Kultbildung vor allem acht psychologische Themen herausgearbeitet, die ein Umfeld ideologischer Totalität schaffen und häufig in Kultanordnungen zu finden sind. Eines dieser Themen ist die sogenannte Milieu-Kontrolle, welche darauf abzielt, die Kommunikationswege der Mitglieder streng zu überwachen.
Nicht nur äußere Kontakte zu Freunden und Familie werden limitiert, sondern auch der innere Dialog, also wie Individuen über sich selbst denken, wird manipulativ eingeschränkt. Dieses Maß an Kontrolle erzeugt nicht selten Frustration und ein Gefühl der Eingeschränktheit, denn Lernen und Selbstentfaltung werden systematisch behindert. Ein weiterer Aspekt ist die mystische Manipulation. Dabei werden die Verhaltensregeln und die ideologischen Vorgaben so inszeniert, dass sie wie spontane, beinahe übernatürliche Eingebungen erscheinen. Gerade religiöse Kulte bedienen sich solcher Strategien, um den Eindruck eines höheren Zwecks zu vermitteln.
Menschen geraten dadurch in eine psychologische Verfassung, die Lifton als „Psychologie der Spielfigur“ beschreibt: Sie erfahren sich als Teil eines unausweichlichen größeren Ganzen, dem sie ausgeliefert sind, obwohl sie dabei selbst Opfer von Verrat und Selbstverrat werden. Das führt zu einem fatalen inneren Konflikt und einer dauerhaften Abhängigkeit vom Kultgefäß. Die Forderung nach Reinheit ist ein weiteres zentrales Element. Die Welt wird dichotomisch in Gut und Böse eingeteilt. In dieser absolutistischen Weltsicht ist jeder vermeintlich unreine Einfluss – sei es eine Person, eine Idee oder eine Handlung – eine potenzielle Gefahr, die ausgemerzt werden muss.
Daraus entsteht eine permanente Atmosphäre der Angst, Fehler machen zu dürfen, und das ständige Bedürfnis zur Selbstkritik und zum Denunzieren anderer. Diese Dynamik führt wiederum zu schweren emotionalen Belastungen, die von Verzweiflung bis zur Aggressivität reichen können, wenn Schuldgefühle projeziert und in kollektive Feindbilder umgewandelt werden. Die sogenannte Kult der Beichte verstärkt diese Mechanismen zusätzlich. Durch regelmäßige Geständnisse sollen Schuldgefühle symbolisch abgelegt werden, was kurzfristig Erleichterung verschaffen kann, langfristig jedoch die Kontrolle über das Individuum erhöht. Derjenige, der sich am häufigsten zu öffnet, wird paradoxerweise oft zum Richter über die anderen.
Diese Spirale aus öffentlicher Selbstentblößung und gegenseitiger Überwachung schafft massive soziale Kontrolle und konformitätsfördernde Zwänge. Das Prinzip der „Heiligen Wissenschaft“ zementiert die ideologische Grundlage der Gruppe als alternativlos und wissenschaftlich fundiert, sodass jegliche Kritik als unwissenschaftlich oder ketzerisch gebrandmarkt wird. Das erzeugt eine rigide Denkweise, in der die Realität durch die Doktrin verzerrt wird und abweichende Erfahrungen nicht mehr anerkannt sind. Durch die Verwendung einer stark vereinfachten, aber allumfassenden Fachsprache – das sogenannte Laden der Sprache – werden Weltbilder zudem eng gefasst und differenzierte Gedanken eingeschränkt. Die Mitglieder verlieren zunehmend die Fähigkeit, die Komplexität der Realität differenziert wahrzunehmen oder kritisch zu hinterfragen.
Im kultischen Denken steht die Lehre, also die Doktrin, über der individuellen Erfahrung des Menschen. Tatsächlich wird die persönliche Wahrnehmung neu interpretiert oder sogar umgeschrieben, um im Einklang mit der Doktrin zu sein. Erinnerungen von historischen Ereignissen können angepasst werden, um die vorherrschende Ideologie zu stützen. Menschen müssen sich dieser Lehre unterordnen, was die Autonomie stark beeinträchtigt und individuelle Bedürfnisse und Gefühle entwertet. Die Abgrenzung vom „Außenseiter“ und die besondere In-Group-Identität führen schließlich zu einer Überheblichkeit, die sich in einer Art Überlegenheitsgefühl äußert.
Menschen außerhalb des Kults werden abgewertet oder gar als „Nicht-Personen“ betrachtet. Diese soziale Exklusion verstärkt das Gefühl der Bedrohung von außen und die Überzeugung, die Rettung liege allein im Verbleib innerhalb der Gruppe. Wie können Menschen aus einem solchen destruktiven System aussteigen? Der Ausstieg aus einem Kult ist oft ein komplexer, emotional belastender Prozess, der nicht ohne professionelle Unterstützung gelingen kann. Rick Alan Ross, ein bekannter Experte für Ausstiegsbegleitung, hat in seinem Buch „Cults Inside Out“ erläutert, dass ein solcher Befreiungsprozess vor allem auf freiwilliger Basis stattfinden muss. Früher wurden sogenannte Deprogrammierungen auch mit Zwang versucht, wie das sogenannte „Entführen“ von Mitgliedern zum „Umerziehen“.
Heutzutage ist dies in vielen Ländern, darunter Deutschland und die USA, rechtlich verboten. Eine wichtige Methode der Unterstützung ist das Durchführen von Interventionen, bei denen Angehörige, Freunde und professionelle Berater gemeinsam das Gespräch mit dem Betroffenen suchen. Dabei steht ein respektvoller Dialog im Vordergrund, in dem die psychologischen Mechanismen des Kults aufgezeigt und transparente Informationen vermittelt werden. Ziel ist es, die kritische Denkfähigkeit des Betroffenen wieder anzuregen, sodass er oder sie sich bewusst mit der eigenen Situation auseinandersetzen kann. Eine Intervention benötigt Zeit und Geduld.
Sie besteht aus Gesprächen, in denen die Familienangehörigen ihre Sorgen äußern und gleichzeitig Beweise und Beispiele für den destruktiven Charakter des Kults darlegen. Gleichzeitig wird Wert darauf gelegt, das Gespräch so wenig konfrontativ wie möglich zu gestalten, um den Betroffenen nicht emotional zu überfordern und das Vertrauensverhältnis nicht zu gefährden. Wichtig ist auch der Ausschluss jeglicher Kommunikation mit dem Kult während dieser Phase, um den Informationsfluss und den Einfluss von außen zu minimieren. In den Gesprächen werden Themen angesprochen, die sowohl die Mechanismen der psychologischen Beeinflussung beschreiben als auch die Geschichte und die aktuelle Situation der jeweiligen Gruppe beleuchten. Die repräsentative Darstellung der Gefahren und Fallen eines destruktiven Kults soll Betroffenen dabei helfen, die Kontrolle über das eigene Denken zurückzugewinnen.
Der Prozess endet nicht unbedingt mit einem sofortigen Austritt aus der Gruppe. Manchmal entscheiden sich Menschen zunächst dazu, die Zugehörigkeit fortzusetzen, treffen aber später die bewusste Entscheidung, sich zu distanzieren. Die Nachsorge, also das Begleiten und Unterstützen auch nach der Intervention, ist ein wichtiger Bestandteil, um den Ausstieg zu stabilisieren und Rückfälle zu vermeiden. Neben der professionellen Hilfe ist die Qualität der sozialen Beziehungen von großer Bedeutung. Ein unterstützendes und verständnisvolles Umfeld kann helfen, die oft traumatischen Erfahrungen der Zeit im Kult zu verarbeiten und ein neues Selbstbild aufzubauen.