Meine Lisp-Reise begann Anfang der 1990er Jahre, in einer Zeit, in der Computer noch mehr Neuland als Alltag waren und Programmieren gerade erst das Tor zu unzähligen Möglichkeiten öffnete. Die Entdeckung von Lisp und im Besonderen der Scheme-Variante war für mich nichts weniger als eine Offenbarung. Erinnert man sich heute an die damaligen Anfänge zurück, fällt auf, wie tiefgreifend und nachhaltig die Erfahrung mit diesem damals scheinbar einfachen, aber doch so mächtigen System war. Als Student der Informatik an der Universität Mailand, Italien, hatte ich das Privileg, an einem einführenden Computer- und Programmierkurs teilzunehmen, der von Prof. Stefano Cerri geleitet wurde.
Der Kurs empfahl als Grundlage das bahnbrechende Buch „Structure and Interpretation of Computer Programs“ (SICP) – ein Werk, das noch heute als Meilenstein in der Programmierausbildung gilt. Begleitend zu diesem Buch wurde Texas Instruments PC Scheme als die empfohlene Scheme-Implementierung auf dem PC eingesetzt. Ich installierte PC Scheme unter DR-DOS auf meinem 20 MHz 386er Olidata Laptop mit 2 MB Arbeitsspeicher und einer 40 MB Festplatte – heute kaum noch vorstellbare Eckdaten, damals aber Standard. Vor diesem Kurs hatte ich zwar oberflächlich etwas über Lisp gehört, doch eine ernsthafte Beschäftigung oder gar praktische Erfahrungen mit der Sprache hatte ich bisher nicht gesammelt. Doch spätestens mit SICP erwachte meine Faszination vollends, denn Scheme – als eleganter Lisp-Dialekt – wurde zum Ausdrucksmittel eines schönen und formalen Denkens über Programme.
Es war eine Liebe auf den ersten Blick. Das Programmieren in Lisp mit PC Scheme eröffnete eine völlig neue Welt der Gestaltung und des Denkens. Die Umwelt war kein bloßes Werkzeug, sondern eine interaktive Partnerschaft, die Entdeckungen ermöglichte und das kreative Gestalten belohnte. Das Herzstück des Systems bildete der Editor EDWIN, dessen Emacs-ähnliches Verhalten mich sofort in den Bann zog. Er war nicht nur ein simpler Texteditor, sondern ein intelligentes Werkzeug mit Lisp-Bewusstsein.
Automatisches Einrücken, Klammernbalancierung und die Möglichkeit, Codeblöcke direkt aus dem Editor heraus auszuführen, waren damals revolutionär. Besonders beeindruckend war die visuelle Rückmeldung beim Umgang mit Klammern. Beim Tippen einer schließenden Klammer blinkte die zugehörige öffnende Klammer auf und zeigte eine kleine Übersicht des zugehörigen Ausdrucks. Dieses Feature war für mich eine praktische Lernhilfe, die mir half, die verschachtelten Strukturen von Lisp zu verstehen und spielerisch zu meistern. Das anfängliche Berühren der unzähligen Klammern entwickelte sich zu einer intuitiven Handlung; die Syntaxschwierigkeiten fielen weg, und ich lernte die ästhetische Form der Lisp-Programmierung zu schätzen.
Eine weitere überraschende Erkenntnis war die Methode, die sich beim Schreiben mit Stift und Papier ergab: Indem ich die linke Hand auf der Seite hielt und mit dem Zeigefinger die korrespondierende öffnende Klammer fixierte, konnte ich synchron mit der rechten Hand die schließenden Klammern setzen. Diese Technik erleichterte das Schreiben selbst komplexer Lisp-Ausdrücke ohne ständiges Nachzählen und machte das Programmieren fast zu einer menschlichen Choreografie – schnell, präzise und elegant. PC Scheme beeindruckte mich damals nicht nur mit seinen technischen Fähigkeiten, sondern auch mit seinem attraktiven Preis. Für 99 US-Dollar, in Italien etwa umgerechnet 150.000 Lira, war die Software erschwinglich genug, um auch Studenten und Hobbyprogrammierer zu erreichen.
Im Vergleich zu mehreren Fachbüchern war das ein fairer Preis für ein so umfassendes Werkzeug. Das Handbuch, ein dicker Ringordner, war eine Fundgrube umfassender Informationen, die ich mehrmals vollständig durchlas. Neben dem hervorragenden Editor bot PC Scheme eine Vielzahl von Funktionen: einen schnellen Compiler, einen strukturorientierten Editor, Erweiterungen wie objektorientierte Programmierung, Textfenster und Grafikbibliotheken. Es stellte folglich eine komplette Entwicklungsumgebung bereit, die in den 1990er Jahren ihresgleichen suchte. Das Spielen mit PC Scheme heute, Jahrzehnte nach den ersten Erfahrungen, erwärmt mein Herz und lässt mich die damalige Hochachtung für Lisp noch besser verstehen.
Die damalige Umgebung war in vielerlei Hinsicht ihrer Zeit voraus: interaktive Entwicklung, exploratives Programmieren und eine reichhaltige Sammlung von Werkzeugen und Bibliotheken machten Lisp zu einer „Batterie-inbegriffenen“ Sprache – lange bevor Schlagworte wie „All-in-One“ oder „Full-Stack“ geprägt wurden. Nach dem Kurs wechselte ich später zu PCS/Geneva, einem weiterentwickelten Schema-Fork der Universität Genf, und lernte parallel dazu auch andere Lisp-Varianten wie Common Lisp, Emacs Lisp und Interlisp kennen. Diese unterschiedlichen Erfahrungen verstärkten meine Leidenschaft für die Sprache nur noch mehr und vertieften mein Verständnis für die eingesetzten Werkzeuge und Entwicklungsphilosophien. In den Mittneunzigerjahren veröffentlichte Texas Instruments dann den Quellcode von PC Scheme, was seinerzeit an mir größtenteils vorbeiging. Erst vor wenigen Tagen entdeckte ich im digitalen Nostalgie-Schatz PC Scheme neu, indem ich es unter dem MS-DOS-Emulator DOSBox-X auf meinem heutigen Linux Mint Cinnamon PC installierte.
Das System läuft bemerkenswert stabil und bietet mir wiederum einen direkten Zugang zu einer Entwicklungswelt, die ich damals nur als Student erleben konnte. Die Erfahrung mit diesem Retro-Setting erlaubt es mir, unterschiedlichste Perspektiven auf moderne Entwicklungsumgebungen und -werkzeuge einzunehmen. Die Leistungsfähigkeit, die damals trotz der oft eingeschränkten Hardware-Bedingungen erreicht wurde, ist bis heute beeindruckend. Es spricht für die exzellente Ingenieurskunst der Entwickler von PC Scheme und für das Potenzial von Lisp als Sprache, die auch über Jahrzehnte hinweg relevant bleibt. Besonders deutlich wird an PC Scheme, wie wichtig intelligente Editorunterstützung und interaktive Entwicklungskonzepte sind.
Viele heute übliche Tools greifen auf längst bekannte Prinzipien zurück, die in solchen frühen Lisp-Umgebungen bereits umgesetzt wurden. Die enge Verzahnung von Editor, Interpreter und Compiler sowie die Möglichkeit, dazu eigene Erweiterungen zu erstellen, sind Werkzeuge, die in der modernen Softwareentwicklung unverzichtbar erscheinen, sich aber nicht erst heute etabliert haben. Meine tiefe Verbundenheit mit Lisp führte mich später auch zu Medley Interlisp, das ich heute als mein tägliches Werkzeug für Lisp-Entwicklung nutze. Seine Kombination aus klassischer Ästhetik, umfassenden Features und außerordentlicher Stabilität erinnert stark an die angenehmen Eigenschaften von PC Scheme und zeigt die Kontinuität innerhalb der Lisp-Tradition. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass meine Lisp-Geschichte nicht nur eine technische Reise darstellt, sondern vor allem eine emotionale Entwicklung, die mich immer wieder vom anfänglichen Staunen über eine neue Denkweise bis hin zum liebevollen Verständnis einer komplexen Sprache führt.